Weder Zwangsheirat noch freie Wahl Die arrangierte Ehe ist für

June 17, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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Weder Zwangsheirat noch freie Wahl Die arrangierte Ehe ist für Europäer ein Horrorszenario, für Inder Alltag. Doch die Akzeptanz dieser Tradition bröckelt Von Thorsten Herdickerhoff, Frankfurter Rundschau Er hatte eigentlich anderes geplant für sein Leben. Selbstbestimmt sollte es sein, ohne Familie, im fernen Europa. Jetzt sitzt der kleine, stämmige Rom auf einer goldenen Bank, geschmückt mit Turban, Troddeln, Blüten und Lametta, neben seiner Braut. Links und rechts quetschen sich lachende Menschen dazu, stellen sich dahinter und davor, bis das Paar zwischen den glitzernden Kleidern und dezenten Anzügen fast verschwindet. Ein greller Lichtblitz, und die nächsten Gratulanten drängen aufs Bild. Über 200 Verwandte schieben sich an dem Paar vorbei, als schillernde Parade in Rot, Rosa, Gold und Grau. Eine Hochzeit im Norden Indiens. Zwei wohlhabende Familien verbinden sich, zeigen ihren Reichtum und folgen den Traditionen. Sie haben alles organisiert: die Bühne mit den goldenen Ketten und den frischen Schnittblumen, die Festwiese mit der Einfassung aus weißen und roten Stoffwänden, das Hochzeitsauto mit den Girlanden aus Tausend aufgefädelten Ringelblumen, das weiße Pferd mit dem glänzenden Geschirr, die BlechbläserBand mit der lauten Musik, die Kellner mit den frittierten Snacks, die Boxentürme neben der Bühne, aus denen indischer Pop dröhnt, die vergoldete Bank, auf der das Paar sitzt, und dessen Ehe. Der Bräutigam Rom schaut angestrengt an den Kameras vorbei und lächelt manchmal, Kinder werfen Blumen in die Luft. Die zierliche Braut zieht ihre Mundwinkel noch seltener nach oben, ihre Augen blicken nach unten. Ein alter Mann greift nach ihrem Kinn und zieht es hoch. „Na Kiran,“ grinst er ihr ins Gesicht, „bist du nicht glücklich?“ Er schüttelt ihr Kinn und lacht laut, sie kneift den Mund zusammen und senkt den Kopf. Rosa Blütenblätter schweben zu Boden. In Indien werden rund 90 Prozent aller Ehen von den Familien arrangiert. Sie sind es, die bei der Heirat eine Verbindung eingehen, vor allem um sich wirtschaftlich abzusichern. Der Staat hat noch kein soziales Netz gespannt, also vernetzen sich die Familien wie eh und je. Die indische Gesellschaft ist kollektivistisch. Die Menschen versuchen zuvorderst das Wohl ihrer Gruppe zu sichern. Das Individuum ist nur Teil dieser Gemeinschaft, seine Identität basiert auf einem Platz darin. Was die Gruppe entscheidet, zählt mehr als individuelle Wünsche. Liebe spielt bei der Partnerwahl dementsprechend keine Rolle, sondern Regeln. Regel Nummer eins: Die Familie weiß, wann es Zeit ist für die Heirat. Der ältere Bruder von Kiran begann die Suche nach einem passenden Bräutigam für sie. Er ist Kampfflieger bei der indischen Luftwaffe, entscheidungsstark, weisungsbefugt und gut organisiert. Er kannte die Familie von Rom und wusste, dass dieser Sohn noch ledig war. Da die Familie zur Kaste der Brahmanen gehört wie seine eigene, schritt er zur Tat und fragte Roms Mutter. Sie ist Landwirtin, steht kurz vor dem Ruhestand und sieht noch genau eine Aufgabe als treusorgende Mutter: den letzten Sohn verheiraten. Also gab sie ihr Ja-Wort, Rom und Kiran wurden nicht gefragt.

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Andere Möglichkeiten der Partnersuche bieten Heiratsagenturen sowie Anzeigen in Zeitungen und im Internet. Dort wollen die Familien „passende“ und „hoch qualifizierte Partner“ für ihre Söhne und Töchter finden. Die werden angepriesen als „gut aussehend, vegetarisch, MA, 170cm/70kg, 600.000 Rupien Jahreseinkommen, 07.07.81 um 7h45“ oder als „hübsch, hellhäutig, 165/55, BA, 400.000pa, 24.02.84 um 10h08“. Die Anzeigen sind sortiert nach Bundesstaat, Religion und Kaste. Zusammen mit dem Einkommen und der Ausbildung sind das wichtige Marker für die Partnerwahl. Soziologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Ehen umso länger halten, je ähnlicher der kulturelle, soziale und finanzielle Hintergrund der Partner ist. In Indien sind arrangierte Ehen nachweislich stabiler als auf Liebe basierende. Und sie sind beliebt, auch bei jungen Menschen. Doch die Zahl der Unzufriedenen wächst, und die Scheidungsrate hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Hochrechnungen zufolge bleiben in Indien noch 93 Prozent der Ehepaare ihr Leben lang zusammen, in Deutschland sind es rund 50 Prozent. Während seine Mutter eine mögliche Partnerin für ihn gefunden hat, fährt Rom durch Österreich. Er ist Geschäftmann, verkauft indische Tees, Gewürze und Textilien, bis nach Südtirol. Er lebt in Wien, allein, und sein Leben gefällt ihm. Das Thema Heirat hat der 33Jährige abgeschlossen, er bleibt Single. Da ist sich Rom ganz sicher. Seine Eltern wissen das, und sie sehen es ihm nach. Er ist ja in Europa, dieser fernen Welt mit ihren fremden Ideen, das geht vorbei. Deshalb befragen sie schon mal den Astrologen. Denn ob zwei Menschen wirklich zusammenpassen, steht in den Sternen. Da sind sich die Eltern ganz sicher. Der Pandit von Roms Eltern ähnelt Clark Gable, der in seinen Filmen als Gentleman genauso überzeugt wie als Freibeuter. Wäre es nicht der Dorfpriester, gälte er als gut aussehender Mann mit seiner feinen Jacke, dem kräftigen schwarzen Haar und den durchdringenden Augen. Er ist auch zuständig für Heirats-Horoskope. Die Eltern geben ihm dafür Datum und Uhrzeit der Geburten von Rom und Kiran. Dann schaut er in Jahrhunderte alten Tabellen nach, ob ihre Ehe glücklich wird, wie oft sie sich streiten werden und ob ihre Kinder gute Erbanlagen haben. Der Dorfpriester geht ein Schema durch, die Kompatibilitätsprüfung, und hält die Pluspunkte fest. Nach einer knappen halben Stunde präsentiert er Roms Eltern die Summe von 27 Punkten und eine Rechnung über 500 Rupien. Der astrologische Kompatibilitätswert von Rom und Kiran war außergewöhnlich hoch und glich damit einem Heiratsurteil. Die erfreuten Eltern informierten das perfekte Paar über sein Glück. Doch die erwachsenen Kinder, die sich nicht kannten, lehnten eine Heirat strikt ab. Vier Monate darauf treffen sie sich. Kiran drückt sich in der Küche herum, während Rom als Brautwerber im Empfangszimmer wartet, zusammen mit seinen Eltern. Die Gäste unterhalten sich höflich mit Kirans Familie, die ebenfalls auf die Tochter wartet. Dann steht der Kampfflieger auf, stößt durch die Tür und führt kurz darauf Kiran am Arm herein. Ihr ist das sichtlich unangenehm, doch sie wehrt sich nicht mehr. Auf Rom macht sie einen selbstsicheren Eindruck, Kiran findet ihn auf den ersten Blick nett. Vorsichtig beginnen die beiden sich zu unterhalten, über ihr Studium und ihre Hobbys, ihre Zukunft klammern sie aus. Es gibt sie, die Vorstellung von romantischer Liebe und heißer Leidenschaft, darum geht es in jedem Bollywood-Film. Es gibt aber auch das Sprichwort, Wasser fange langsam an zu kochen, also nach der Hochzeit. Relativ gesehen steigt die Zahl der Liebesheiraten rasant, die durchaus akzeptiert werden. Absolut gesehen ist die Zahl aber gering und macht knapp zehn Prozent aller Heiraten aus. Die meisten halten es mit dem Sprichwort.

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Als sich die Familie zur Beratung zurückzieht, wird Rom nervös. Er bekommt plötzlich Angst, abgelehnt zu werden. Dabei will er doch gar nicht heiraten, aber Kiran gefällt ihm. Er ist durcheinander, will der Situation entfliehen und verlässt das Haus. Der Pilot ist zufrieden mit Rom, der Rest der Familie auch. „Du solltest ja sagen“, raten sie Kiran. Sie könne selbstverständlich auch ablehnen, setzen sie hinzu, doch Kiran spürt etwas anderes. Sie fügt sich der Wahl der Familie. Im Rückblick wird sie sagen, dass es nicht ihre freie Entscheidung war. Sie wird auch sagen, dass man selbst nicht wisse, was richtig und was falsch sei. Aber die Eltern, die wüssten was richtig sei für sie. Da Inder vor der Ehe allermeist keine Beziehungen eingehen, knüpfen sie ihre emotionalen Bindungen bis dahin nur zu Familienmitgliedern. Der Soziologin Rajni Palriwala zufolge sind deshalb die jungen Familienmitglieder überzeugt davon, dass die Entscheidungen der anderen gut für sie sind. Außerdem erlaubt man sich nicht, diesen Zusammenhang genauer zu hinterfragen. „Das ist kein reiner Zwang“, sagt die Professorin, die an der Universität von Delhi lehrt und Verwandschaftsbeziehungen erforscht, „aber gleichzeitig ist es auch keine wirklich freie Wahl.“ Rom bleibt lange fort. Erst kurz bevor sein Zug fährt, kommt er zurück. „Kiran hat sich für dich entschieden“, rufen sie ihm fröhlich zu als er ins Haus tritt. Rom lacht unsicher mit den anderen. Später wird er sagen, er habe sich auf dem langen Spaziergang für die Ehe mit Kiran entschieden. Er wird auch sagen, dass er nur für seine Eltern heirate. Palriwala zufolge leben Menschen gleichsam in einer Arena, die bei sozialen Entscheidungen mitredet, und zwar egal in welcher Kultur und Gesellschaft. „In dieser Arena wachsen wir alle mit den sozialen Parametern auf, die darüber bestimmen was uns glücklich macht, was uns zufrieden sein lässt und was uns gut tut.“ Die Hochzeitsrituale haben begonnen. Im Haus der Familie des Bräutigams singen die Frauen zum traditionellen Sangit. Den Rhythmus schlagen sie mit einer kleinen Trommel, die Wechselgesänge sind improvisiert. Eine Schwägerin von Rom singt, dass sie glücklich sei in ihrer neuen Familie, dass die Schwiegermutter sehr nett zu ihr sei, aber manchmal zu viel kontrollieren wolle. Die anderen Frauen kichern und die Mutter antwortet im Rhythmus der Trommel: Sie verstehe die Kritik sehr wohl, aber sie müsse eben die Rolle der Mutter spielen. Die Frauen lachen herzlich und der Chor besingt, wie gut sich alle verstehen. Rom sitzt abseits und schaut zu. Seine Braut Kiran erlebt gerade dieselbe Zeremonie, im Haus ihrer Familie, eine Tagesreise entfernt. Die Tradition sieht vor, dass sich Rom und Kiran erst zur Eheschließung in vier Tagen wiedersehen, zum zweiten Mal in ihrem Leben. Doch die Moderne hat ihnen eine andere Möglichkeit eröffnet, sich anzunähern. Sie telefonieren miteinander, regelmäßig seit ihrem ersten Treffen. Jetzt reden sie über Flucht. Sie planen wegzulaufen, wissen auch schon wohin, und wollen dort ganz allein – heiraten. Darin haben sie sich inzwischen gefügt. Sie versuchen nur noch die vielen Rituale zu umgehen, die bis zur Hochzeit in drei Tagen mit ihnen abgehalten werden. Manche der Rituale finden sie sinnentleert, andere stören sie gerade wegen der Aussage. Die vielen Geldgeschenke etwa, die sich die Familien gegenseitig machen, und die immensen Kosten der Feier. Im Mittel zahlen die Familien dafür fünf bis zehn Jahreseinkommen. Die in Indien übliche Mitgift der Braut lehnen Rom und Kiran auch ab, doch da sind sie zum Glück einig mit Roms Eltern. Das chromglänzende Motorrad von Hero-Honda nahm seine Familie nicht an.

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Aber dann kommen Rom und Kiran zu dem Schluss, es sei zu spät für eine Flucht. Die Eltern haben doch schon alles vorbereitet, die Verwandten sind eingeladen, das Zeremoniell hat bereits begonnen. Sie fügen sich in ihr Schicksal. Als auch der letzte Verwandte ihnen gratuliert hat, stehen Rom und Kiran von der vergoldeten Bank auf. Es ist bereits nach Mitternacht. Sie gehen müde ins Kasino nebenan und essen etwas. Jetzt noch das Rital der Sieben Kreise, damit die Ehe sieben Leben lang hält, und dann –. Rom möchte zurück nach Europa, seiner zweiten Heimat. Kiran soll mit ihm kommen, doch nur wenn sie selber möchte. Das schätzt er so an Europa, den Respekt vor dem Einzelnen. Seine Frau werde absolut frei sein, da ist sich Rom ganz sicher.

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