Character-Ausgabe 7

April 28, 2018 | Author: Anonymous | Category: N/A
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echtes. private. banking.

ausgabe 7 — august 2015

Character im Porträt

Sol Gabetta Die Star-Cellistin über Musik, Familie und Leben 6 —19

Hatteste was, warste was! Kommt Eigentum aus der Mode? 20 — 23

Klein-Tokio am Rhein Japanische Kultur in Düsseldorf 40 — 45

Gegenwart

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Editorial

Das gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht. Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832, deutscher Dichter

Character

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August 2015

Liebe Leserin, lieber Leser, die Welt ist digital – so scheint es zumindest. Das Internet und mobile Dienste prägen schon lange unseren Alltag: die Art, wie wir kommunizieren, wie wir Geschäfte machen und wie wir unsere Freizeit gestalten. Da drängt sich der Eindruck auf, das Leben sei von einem digitalen Code durchdrungen, einem endlosen Strom von Einsen und Nullen. Doch die Welt ist nicht so einfach, so schwarz-weiß.

aManDla beDeutet unter anDereM „kraft“: unD wer veränDern will, Der braucht Diese kraft.

Das Besondere liegt oft in vermeintlichen Widersprüchen. Zwischen zwei Polen kann viel Energie entstehen – also irgendwo zwischen dem „Schwarz“ und dem „Weiß“ dieser Welt. Der „Character“ unserer aktuellen Ausgabe ist dafür das beste Beispiel: Die Star-Cellistin Sol Gabetta lebt für die Musik, davon durften wir uns bei einem ihrer Konzerte selbst ein Bild machen. Die Künstlerin mag zierlich wirken, doch zieht sie die Menschen in ihren Bann. Ihr Spiel drückt Empfindsamkeit genauso aus wie Kraft – „halb Mezzosopran, halb Panther“, wie sie es selbst beschreibt. Gegensätze bringt auch Jakob Schlichtig zusammen. Er hat die Hilfsorganisation AMANDLA EduFootball gegründet und gibt Kindern und Jugendlichen in Südafrika ein sicheres Umfeld in eigenen Sportstätten. Um das Projekt erfolgreich zu starten, hat sich Schlichtig aber nicht allein auf die beeindruckende soziale Strahlkraft von AMANDLA verlassen. Schlichtig steht für eine klare Professionalisierung von Sozialunternehmern. Seine Organisation ist ein Start-up mit einer betriebswirtschaftlich fundierten Grundlage – und vermittelt den Kindern vor Ort Rückhalt, Stärke und ein wichtiges Wertesystem. AMANDLA bedeutet unter anderem „Kraft“: Und wer verändern will, der braucht diese Kraft. Von scheinbaren Widersprüchen handeln auch viele weitere Geschichten in diesem Magazin. Kennen Sie das japanische Düsseldorf? Oder die alte Schuhfabrik van Bommel, die heute mit ausgeflippt bunten Kreationen up to date ist? Lesen Sie vom Fotografen Martin Schoeller, der mit seiner Kamera hinter die Fassaden von Weltstars, Wirtschaftsgrößen und Politikern schaut. Oder von Austern made in Germany, keinem Kunst-, sondern einem echten Luxusprodukt von der Insel Sylt. Welches Verkehrsmittel ist das modernste der Welt? Ganz einfach: das Fahrrad. Und welcher alte Wert erhält eine digitale Intelligenz? Das Haus. Wo ist nun bei allen vermeintlichen Gegensätzen zwischen alt und neu, analog und digital Echtes. Private. Banking. einzuordnen? Ist es eine traditionelle Dienstleistung oder ein digitaler Service? Und ist dies überhaupt ein Widerspruch? Bleiben wir im Dialog!

Aus dem Bethmannhof grüßt Sie herzlich

horst schMiDt

Vorstandsvorsitzender der Bethmann Bank

Gegenwart

traDition

gut zu fuss Der nieDerlänDisChe traDitionsbetrieb van boMMel unD seine MoDernen sChuhe

Inhalt

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gegenwart

24

sol gabetta Die star-Cellistin über Musik, FaMilie unD leben

Delikatessen aus sylt Die einzige DeutsChe austernzuCht

56

www.bethmannbank.de

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40 Japanisches DüsselDorf Mehr als nur MoDe unD altbier

Character

August 2015

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zukunft

überblick

34 haus Mit hirn Das sMart hoMe bietet viele Funktionen – aber sinD auCh alle sinnvoll?

fairness iM township aManDla eDuFootball bietet benaChteiligten kinDern neue PersPektiven

50

6

character iM porträt sol gabetta star-Cellistin

20

werte iM wanDel hatteste was, warste was! koMMt eigentuM aus Der MoDe?

24

unternehMen Mit traDition cooles altes hanDwerk Die sChuhFabrik van boMMel

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perspektivenwechsel Das fahrraD WaruM in Die PeDale treten?

34

für Morgen wenn Die glühbirne Das haus lahMlegt ist Der trenD zuM sMart hoMe sinnvoll?

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12 Dinge, Die Man tun sollte von kleinen schritten unD grossen gefühlen

40

Mehrwerte klein-tokio aM rhein JaPanisChe kultur in DüsselDorF

46

zahlen, bitte! pilze WeDer tier noCh PFlanze

48

kleine schätze Des alltags hatschi! Das tasChentuCh

50

zwischen koMMerziell unD karitativ Mit Der kraft Des fussballs aManDla eDuFootball

54

hello / gooDbye guckst Du noch oDer streaMst Du schon? von Dia-abenDen unD streaMingDiensten

56

panoraMa von wegen schlürfen. kauen! DittMeyer´s austern-CoMPagnie

64

unternehMen Der zukunft sauberMann Mit Öko-effekt MyCleaner: autoWäsChe ohne Wasser

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12 ausgewählte zitate von sol gabetta

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einplanen Durch Das Jahr Mit sol gabetta

74

panoraMa Der echte augenblick starFotograF Martin sChoeller

84

iMpressuM

Gegenwart

Porträt

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Star-Cellistin

Sol Gabetta interview: Dr. eva karcher

Fotos: oliver Mark

Das Konzert in der ehemaligen Scheune des Henslerhofs am Titisee ist ausverkauft. Als die Star-Cellistin sol gabetta den Raum betritt, empfängt sie ungestümer Applaus: Sie nimmt ihr cello und entfaltet ein brillantes Spiel zwischen hauchzarter Empfindsamkeit und raubtierhafter Kraft. Am nächsten Tag bittet sie uns in ihr haus iM bauernDorf olsberg bei Basel, das sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten Christoph Müller bewohnt. Im Interview lacht sie viel, spricht schnell mit charmant akzentuiertem R und schwungvollen Gesten.

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Character

Produktiv: Seit 2006 veröffentlicht Sol Gabetta mit berühmten Musikern CDs wie zuletzt „The Chopin Album“ mit dem Pianisten Bertrand Chamayou, einem seit Jahren engen Freund.

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Gegenwart

Frau Gabetta, ist das Ihr Hometrainer oder der Ihres Lebensgefährten? Meiner. Ich sitze dort (tsch, tsch, tsch, sie macht schnelle Tretbewegungen mit den Armen), strample eine halbe Stunde und dazu höre ich die Berliner Philharmoniker über Kopfhörer. Oder ein anderes Orchester. Es klingt wie im Konzertsaal. Im Februar erschien Ihre CD „The Chopin Album“, die Sie mit dem Pianisten Bertrand Chamayou, einem langjährigen Freund, aufgenommen haben. Soeben kehren Sie von einer mehrwöchigen Tournee zurück, und auch die zweite Jahreshälfte ist bereits eng durchgetaktet. Wie unerschöpflich ist Ihre Energie? Es ist weniger eine Frage der Energie als der Passion. Leidenschaft ist meine Motivation! Karriere um der Karriere willen hat mich nie interessiert. Ich gehe meinen Weg Schritt für Schritt (mit den Händen zeigt sie eine kleine Spanne). Viele Kollegen überfordern sich, weil sie zu hohe Erwartungen an sich haben. Da ist Frustration vorprogrammiert. Mein Leben dagegen verlief immer sehr realistisch. Auch dank Ihrer Eltern? Ihr argentinischer Vater Antoine ist Ökonom, Ihre russisch-französische Mutter Irène Pianistin. Sie waren fantastisch darin, dass sie mich immer wieder auf den Boden gezogen haben. Wir sind vier Geschwister, ich bin die Jüngste. Jacqueline ist 15 Jahre älter als ich, Christian, der Zweitgeborene, Ingenieur und Andrés Geiger. Seit 2010 leitet er das Barockorchester „Capella Gabetta“, das wir zusammen gegründet haben. Ein echter Clan. Auch Ihr Lebensgefährte Christoph Müller, Cellist und Musikmanager, gehört dazu. Mit ihm haben Sie 2006 das SOLsberg Festival im Schweizer Dorf Olsberg initiiert. Und gerade durften wir Ihre Matinee mit dem Pianisten Sergio Ciomei und Stücken von Beethoven, Schostakowitsch und AdrienFrançois Servais im Henslerhof am Titisee erleben. Ist die Familie immer dabei?

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So oft wie möglich. Mit meinen Eltern und Geschwistern und meinem Partner zusammen zu sein, empfinde ich als großes Glück. Meine Mutter ist vielleicht meine engste Vertraute, die mich auch liebevoll kritisiert; mein Freund unterstützt mich sehr großzügig, mit ihm entwickle ich viele Ideen gemeinsam. Er kann sehr gut damit umgehen, dass ich manchmal im Mittelpunkt stehe. Umgekehrt begebe ich mich gerne in die zweite Reihe, wenn es um ihn geht, zum Beispiel als Intendanten des Menuhin Festivals in Gstaad. Ich beobachte sooo gerne, und das kann man nur im Hintergrund.

ich glaube, Man braucht ein starkes ego, uM ein inDiviDualist zu sein. inDiviDualisMus ist für Mich Die voraussetzung, kreativ zu sein unD etwas zu schaffen.

Aber Sie lieben auch die Bühne! Sehr! Wenn ich spiele, bin ich von dem, was um mich herum geschieht, zwar total abgetrennt. Die Musik absorbiert mich völlig. Aber die Minuten, wenn ich einen Saal betrete, und den Applaus danach genieße ich. Ich trage gerne Kleider und manchmal auch große Roben, aber sie dürfen nicht zu kompliziert sein. Für das Konzert im Henslerhof wollte ich mich frei bewegen können. Das ist ja ein wunderschöner renovierter Schwarzwaldhof aus Holz, der unter Denkmalschutz steht, mit schrägen Wänden, niedrigen Decken und krummen Treppenstufen. Zu dieser Einfachheit fand ich schwarze Hosen und ein gleichfarbiges Top passender. Jeder muss seinen Stil finden. Stil ist Persönlichkeit.

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Porträt

Also auch Charakter. Welche Eigenschaften prägen Sie? Ich bin neugierig und Menschen und dem Leben gegenüber sehr positiv eingestellt. Auch ein Energiebündel und oft etwas ungeduldig. Vor allem jedoch bin ich eine Perfektionistin der Emotionen, nicht nur der Technik! Und dafür brauche ich viel Zeit und Kraft. Ich darf mich also nicht zu sehr verausgaben. Die Gefahr ist riesig, sich zu verlieren, gerade wenn jemand extrem begabt ist. So viele junge Supertalente sind zu früh an Drogen und Süchten zugrunde gegangen. Warum? Zuerst erleben sie diesen Erfolg, Unmengen von Adrenalin überfluten sie, dann kommen sie total erschöpft und leer nach Hause und werden von Melancholie überschwemmt. Wie finden Sie Ihre Balance? Die habe ich einfach. Ich war immer so. Nach außen sehr aktiv und temperamentvoll, nach innen ganz ruhig. Es ist ein Geschenk, denn bei vielen ist es umgekehrt. Sie scheinen gelassen und sind innerlich aufgeregt. Ich bin jedoch kein Rebell, obwohl ich eigentlich rebellisch veranlagt bin. Aber ich musste nie gegen etwas sein, weil ich in meiner Erziehung nicht bevormundet wurde. Ich konnte immer selbst entscheiden, was ich sagen und tun will. Auch als Kind? Von Anfang an. Ich habe einen starken Willen, den typischen Widder-Dickschädel. Einmal, ich war sechs, hatte meine Mutter mir für ein Konzert ein Kleid vorgeschlagen, das sie für mich genäht hatte. Nein, sagte ich, ich nehme dieses. Das war mit allem so. Ich wusste immer genau, was ich wollte, auch welche Musik ich spielen wollte, und duldete keinen Widerspruch. In Córdoba, meiner Heimatstadt, wo wir damals lebten, war es schwer, Noten zu bekommen. Also schrieb mir meine Mama die Noten, wenn ich eine bestimmte Komposition spielen wollte, die ich gehört hatte.

Character

Hingabe und Leidenschaft: Witz, aristokratische Haltung und Eleganz bescheinigen Kritiker den Auftritten der Cellistin und schwärmen von ihrem einzigartig intensiven und gleichzeitig leichten Klang.

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Gegenwart

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leiDenschaft ist Meine Motivation! karriere uM Der karriere willen hat Mich nie interessiert.

Porträt

Character

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Matinee im Schwarzwaldhof: Wo immer Gabetta auftritt, und sei es im kleinen Ort Hinterzarten am Titisee, reisen die Fans aus allen Winkeln des Globus an. Kein Wunder, verbindet die Künstlerin doch Ausnahmetalent mit Aura.

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Gegenwart

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Porträt

vorstellungskraft, sensibilität, vor alleMDas JeDoch eMpathie, sinD bin ich eine aus eigenschaften, perfektionistin Der Denen sich intuition eMotionen, nicht nur entwickelt. Das, technik! was Der einen charakter zuM charakter Macht.

Arbeitsplatz: In ihrem Haus im schweizerischen Olsberg studiert die Cellistin neue Stücke ein, umgeben von Erinnerungsfotos ihrer Tourneen und Souvenirs aus ihren Lieblingsländern. www.bethmannbank.de

Character

Waren Sie ein Wunderkind? Nein. Schon allein, weil mich meine Eltern nie bevorzugt haben. Wenn Andrés, er ist fünf Jahre älter als ich, Geige spielte, habe ich ihn imitiert. Ich erinnere mich, dass ich schon mit zweieinhalb Jahren viel gesungen habe. Und mit meinen Porzellanpüppchen gründete ich einen Chor und dirigierte sie. Aber es gab keinen Druck von meinen Eltern. Früh war ihnen jedoch klar, dass ich musizieren musste. Es war meine Art, Gefühle und Stimmungen auszudrücken. Mit viereinhalb Jahren bekam ich mein erstes Cello; wissen Sie, was das Auswahlkriterium war? Ich wollte ein Instrument, das größer sein sollte als das meines Bruders! Spricht für ein ausgeprägtes Ego. Eher für ausgeprägten Individualismus. Ich glaube, man braucht ein starkes Ego, um ein Individualist zu sein. Individualismus ist für mich die Voraussetzung, kreativ zu sein und etwas zu schaffen. Er ist eine Qualität. Egomanie dagegen finde ich destruktiv, das ist ein auswegloses Kreisen um sich selbst. Ein Cellist muss oft stark sein und das Orchester anführen. Gleichzeitig brauche ich Partner wie meinen Bruder, bei denen ich mich geborgen fühle. Es ist ein Geben und Nehmen, entscheidend ist die Sensibilität füreinander.

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War das Cello an der Wand gegenüber Ihr erstes? Nein, das spielte ich mit zwölf, als ich an die Musik-Akademie nach Basel kam. Zwei Jahre zuvor war meine Mutter mit meinen Brüdern und mir aus Argentinien nach Madrid gegangen, weil Andrés und ich ein Stipendium erhalten hatten. Wir folgten meinem Lehrer Ivan Monighetti, er war ein Schüler von Rostropowitsch, dann auch nach Basel. Mein Vater blieb mit meiner autistischen Schwester in Argentinien, bis wir in Frankreich eine Schule für sie gefunden hatten. Dann verkaufte er unser Haus und zog zu uns in die Schweiz. Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Schwester Jacqueline? Sehr innig. Früher habe ich oft auf sie aufgepasst, ich war wie ihre Mama. Heute sehen wir uns am Wochenende, wenn ich da bin. Sie liebt es, mich üben zu hören! Ich weiß, dass ich mein Leben lang Verantwortung für sie trage, und das ist mir eine große Freude. Was sind Autisten? Menschen, die in ihrer komplett eigenen Welt leben. Manchmal beneide ich meine Schwester, denn sie existiert in gewisser Weise außerhalb unserer gesellschaftlichen Realität. Die empfinde ich hin und wieder als kontraproduktiv, denn sie lässt so wenig Raum

August 2015

für Spontaneität, Idealismus und Freiheit. Klar brauchen wir Rituale und Rhythmen des Zusammenlebens. Aber der Anpassungsdruck kann zu hoch werden. Genau wie der Zeitdruck. Wir sind keine Computer. Wie gehen Sie mit solchen Zwängen um? Ich versuche, sie in Stärken zu verwandeln. Sagen wir, ich bin mit einem Programm auf Tournee und spiele täglich die gleichen Stücke, eingebunden in ein rigides Zeitraster. Das klingt nach Routine und Übermüdung, aber ich sehe darin eine zusätzliche Chance, noch perfekter zu werden. Wenn Nuancen besser waren als vorher, bin ich überglücklich und erfüllt. Ich gehe ins Bett, und wenn ich am Morgen aufwache … Dann? Kurz vor dem Wachsein gibt es eine winzige, fast noch unbewusste Phase, in der Sie sich manchmal erinnern, was Sie geträumt haben. Und in diesen zwei Sekunden spüren Sie auch, in welchem emotionalen Zustand Sie sind. Jedenfalls wache ich auf und empfinde in diesen Augenblicken, mit welchen Gefühlen mich das Konzert am Abend zuvor zurückgelassen hat.

Gegenwart

Porträt

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Es ist der Moment, in dem ich mich mit mir selbst treffe, in dem ich ganz und gar bei mir bin. Was machen Sie, wenn Sie sich schlecht fühlen? Ich beginne, zu analysieren. Um zu verarbeiten, was mich belastet. Wenn ich das nicht tue, werde ich krank. Ist Musik auch Therapie? Definitiv. Obwohl es mein Beruf ist, kann ich ihn unmöglich von meinem Leben trennen. Ich bringe also meine Probleme mit, wenn ich anfange zu üben. Wunderbarerweise beruhigen mich die Arpeggien, die Akkorde und Tonleitern. Ich vergesse die Sorgen nicht, aber das Cello hilft mir, ähnlich wie ein Work-out, sie etwas weniger schwer zu nehmen. Ist Üben Qual oder Freude oder beides? Ich liebe Üben. Es ist das Gegenteil von Zwang. Es bedeutet, meinen Gefühlen und Gedanken Form zu geben. Wo will ich ankommen, nicht nur technisch, warum verstehe ich diesen Satz so und nicht anders? Für mich ist es sehr wichtig, eine Struktur zu finden. Manche Kollegen üben viel weniger,

sie setzen auf Spontaneität. Das kann ich nicht. Wenn ich im Konzert 100 Prozent geben will, muss ich zu Hause 200 Prozent erreichen, wenigstens einmal. Nehmen wir an, ich will einen Ton finden, eine Art von Farbe, ich weiß genau, wie er klingen soll, aber es funktioniert nicht. Glauben Sie, im Konzert gelingt mir das? Mithilfe von Magie? Nein. Üben ist für mich, wie eine Pyramide aus Karten bauen, mühsam, mit unzähligen Wiederholungen, immer wieder fällt das Haus zusammen. Dann, im Konzert, befreie ich das Kartenhaus und schenke es dem Publikum. Welcher Komponist ist für Sie die größte Herausforderung? Jeder auf seine Weise. Die meisten haben sehr emotional komponiert, jeder in seiner Zeit und Welt. Sie waren Schöpfer, wir sind Interpreten. Wir versuchen, die Transzendenz der Musik herzustellen. Nehmen wir Dmitri Schostakowitsch. Bei ihm beeindruckt mich, wie es ihm gelang, das stalinistische System subversiv vorzuführen. Er schrieb dem Regime eine Hymne und ironisierte es in seinen Sinfonien gleichzeitig. Aber er lebte in ständiger Gefahr und der Angst, jederzeit verhaftet

zu werden. Seine Partituren schrieb er mit dem gepackten Koffer neben sich und am Schluss schlief er kaum noch. Ich verehre ihn. Ist er Ihr Lieblingskomponist? Mit dem Wort „Liebling“ tue ich mich schwer. Ich bin kein Fan von irgendjemand, ich war es nie. Sicher, ich habe mit sehr beeindruckenden Persönlichkeiten zu tun, sie inspirieren mich, sie geben mir Impulse. Aber ich hatte nie Idole. Weil ich sie nicht brauche. Wenn man sich mit jemandem, zu sehr identifiziert, gibt man der eigenen Persönlichkeit keinen Raum mehr, sich zu entwickeln. Gibt es jemanden, den Sie bewundern? Da ist dieser junge Hornist, Felix Klieser. Er wurde ohne Hände geboren und spielt nur mit den Füßen, es ist unbeschreiblich. Wie er einen Mangel in Virtuosität transformiert, grenzt an Genie. Ich habe ihn vor zwei Jahren bei der Echo-Verleihung gehört. Ein sehr geerdeter Typ.

eine Der beDeutenDsten zeitgenÖssischen cellistinnen Sol Gabetta wird als jüngste von vier Geschwistern am 18. April 1981 im argentinischen Córdoba geboren. Schon mit zwei Jahren fällt die Tochter der russisch-französischen Pianistin Irène Timacheff und des argentinischen Ökonomen Antoine Gabetta durch ihre außergewöhnliche Musikbegabung auf. Mit viereinhalb Jahren erhält sie ihr erstes Cello und Unterricht, als Zehnjährige gewinnt sie einen Wettbewerb in Argentinien und im selben Jahr geht sie mit Mutter und Brüdern über Spanien in die Schweiz. Als Zwölfjährige studiert sie an der Musik-Akademie in Basel bei Ivan Monighetti, einem Schüler von Mstislaw Rostropowitsch, und nimmt noch während des Studiums das erste Album auf. Die internationale Karriere startet Gabetta 2004 als Gewinnerin des „Crédit Suisse Young Artist Award“. Sie tritt mit den Wiener Philharmonikern unter Valery Gergiev auf und bald mit den namhaftesten Orchestern der Welt, gewinnt Preise wie 2007 und 2013 den Echo Klassik, veröffentlicht zahlreiche CDs und absolviert mehr als 130 Konzerte pro Jahr. Heute gilt Sol Gabetta, die zudem an der Basler Musik-Akademie lehrt, mit ihrem vielfältigen Repertoire von Vivaldi über Mozart bis zu Dvorák, Schostakowitsch und Bloch als bedeutendste zeitgenössische Cellistin.

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Character

Wahlheimat: Gabetta genießt die Ruhe auf dem Land und die langen, ungestörten Spaziergänge, die sie dort macht.

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Gegenwart

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ich Musste nie gegen etwas sein, weil ich in Meiner erziehung nicht bevorMunDet wurDe. ich konnte iMMer selbst entscheiDen, was ich sagen unD tun will.

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Porträt

Character

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Freiheit: Wenn die Künstlerin mit ihrer Silberklangstimme und dem gurrenden R spricht, ist auch ihr Körper ständig in Bewegung.

Gegenwart

Lebensfreude: Tierfreundin: Mit Wenn Hündin sie Froschi in Olsberg in der ist, Diele besucht ihres Gabetta Hauses, regelmäßig rechts Stillle die ben Tiere ausinWunderkammerder Nachbarschaft, neben objekten Kühen wie einer und Schafen Koralle und auch Eisenvotiven Alpakas und fürsogar den Tiger Heiligen undSt. Löwen. Leonhard

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Porträt

Character

Haben Sie das absolute Gehör? Nein. Es ist übrigens ein Vorteil. Wenn man heute ein Klavier stimmt, dann immer in der gleichen Frequenz, für den Kammerton A sind das 440, 442 Hertz. Aber im Barock, bei Vivaldi zum Beispiel, waren die Instrumente oft verstimmt. Man spielte mal eine Frequenz von 415, mal eine von 430 Hertz, und es störte niemanden. Je weniger Druck ein Instrument hat, desto weicher ist sein Klang. Wie der Ihrer rund zwei Millionen Euro kostbaren Guadagnini von 1759? Nun, meine Guadagnini hat heute auch Stahlsaiten, keine aus Darm wie früher. Ihr Klang ist so … aaah, so rein … Sie ist so eine „Purheit“! Ein Mezzosopran, eine hellere Stimme, aber mit großer Tiefe. Es gibt andere Instrumente, die sind ein bisschen wie ein Raubtier, chrrrrrrrh (sie faucht). So einen Panther suche ich gerade, den ich zähmen kann. Es würde mich interessieren, wie weit ich mit so einem Animal komme. Aber ich habe mich noch in keines verliebt.

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Bei Ihrem Cello war es Liebe auf den ersten Blick? Oh ja! Bei einem Hauskonzert begegnete ich einem Förderer, der mir vorschlug, ein bestimmtes Cello für mich zu kaufen. Ich lehnte ab, nein, sagte ich, dieses Instrument wird nicht meine große Liebe. Suchen wir Ihre große Liebe, meinte er, und wir reisten durch Europa. Am Ende fand ich meine Guadagnini in London, sie war das Cello, das am wenigsten angepriesen wurde. Ich spielte drei Töne und wusste, wir gehören zusammen – inzwischen seit beinahe zehn Jahren. Man muss auf sich selbst hören, das habe ich dabei gelernt. Wie schwierig ist eine Karriere im klassischen Musikgeschäft für Frauen? Als ich vor zehn Jahren begann, CDs zu produzieren, war es für Frauen leichter, international ins Geschäft zu kommen. Allerdings auch schwerer, zu bleiben. Die meisten waren nach zwei, drei Jahren wieder verschwunden. Männer dagegen machten stabilere Karrieren. Entscheidend ist die Konsequenz, die man hat, um sich zu behaupten.

August 2015

Welche Rolle spielt Geld für Sie? Meine Familie hat sich nie an Geld gemessen, und ich tue das genauso wenig. Ich kann Luxus genießen, elegante Kleider, Grandhotels, erlesene Getränke und Speisen. Aber ebenso gerne esse ich ein Käsebrot. Luxus ist auch, dass ich mir zusammen mit meinem Freund das Haus in Olsberg gekauft habe, in diesem Bauerndorf mit 200 Einwohnern. Die Menschen hier sind so begeisterungsfähig! Es ist paradiesisch, nach all den Reisen zurückzukehren, die Vögel zwitschern zu hören, die Alpakas in ihrer Hütte oben am Weg zu besuchen und den Dompteur, der hier mit Löwen und Tigern wohnt. Sind Sie gerade wunschlos glücklich? Ziemlich. Noch hatte ich keine Krise und dafür bin ich dankbar. Aber ich habe Angst davor. Wenn sie kommt, hoffe ich, sie als Herausforderung annehmen zu können, an der ich wachse.

Gegenwart

Werte im Wandel

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werte iM wanDel

hatteste was, warste was! koMMt eigentuM aus Der MoDe? Eigentum verpflichtet. Doch immer weniger Menschen scheinen sich verpflichten zu wollen. Dinge zu besitzen wird unwichtiger – solange man Zugang zu dem hat, was man möchte, wenn man es möchte. Die sogenannte Shareconomy macht genau das immer einfacher.

„Mensch, der Schober!“, schallt es durchs Café. Zwei Männer – offenbar alte Bekannte aus Schulzeiten – laufen sich nach langer Zeit zufällig wieder über den Weg. „Wie geht’s?“, fragt der eine. „Blen-dend!“, kommt die selbstbewusste Antwort. Gefolgt von auf den Tisch geknallten Fotos: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot!“ Dieser legendäre Werbespot aus den 1990ern dürfte den meisten noch gut im Gedächtnis sein. Überraschend ist jedoch, wie antiquiert das aufgeplusterte Vorzeigen von Besitztümern in der Rückschau wirkt. Denn selbst dem Gegenüber fällt nicht mehr ein, als mit einem größeren Haus, Auto und Boot sowie einem Pool und einem Rennpferd zurückzuprahlen. Sympathieträger sehen heute anders aus. Wie die beiden wohl reagieren würden, wenn man ihren Besitzerstolz beispielsweise mit einem „Seht mal: Das sind meine 15.000 Autos“ kontern würde? So viele CarsharingFahrzeuge sind nämlich derzeit in Deutschland unterwegs.

Es verschiebt sich gerade etwas – nicht nur hierzulande. Besitz wird unwichtiger. Worauf es stattdessen ankommt, ist Zugriff auf die Dinge zu haben, die man benötigt. Shareconomy lautet der Begriff dafür. Oder „Collaborative Consumption“, gemeinsamer Konsum. braucht Man Das wirklich? Der Satz „Ich brauche keine Bohrmaschine, ich brauche ein Loch in der Wand“ fasst den Gedanken dahinter anschaulich zusammen. Warum etwas anschaffen, was pro Jahr maximal eine halbe Stunde genutzt wird, den Rest der Zeit aber im Keller verstaubt? Online-Plattformen wie leihdirwas.de oder frents.com erlauben unkompliziertes Ausleihen und Tauschen von Dingen, die man akut benötigt, aber nicht dauerhaft besitzen muss. Auch die großen Automobilkonzerne haben inzwischen erkannt, dass ihr eigentliches Geschäft womöglich weniger darin besteht,

Stahl zu verarbeiten, den die Menschen dann in ihre Garagen stellen, sondern eben diese Menschen von A nach B zu bringen. Ob BMW und Sixt mit DriveNow oder Daimler und Europcar mit car2go – selbst die Bahn setzt mit Flinkster inzwischen auf ein eigenes Carsharing-Angebot. Und der Erfolg gibt ihnen Recht: Beträgt der Anteil von Carsharing heute rund ein Prozent am Nahverkehr, gehen die Experten von Roland Berger davon aus, dass dieser bis 2025 auf zehn Prozent steigen wird. auto Ja, tüv nein! Gerade in Großstädten, wo Carsharing einfacher und populärer ist als auf dem flachen Land, kann es nicht nur den Geldbeutel, sondern auch die Straßen entlasten: Denn laut Studien ersetzt ein Carsharing-Auto zwischen fünf und acht Privat-PKW.

Character

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Gegenwart

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Werte im Wandel

Ich brauche keine Bohrmaschine.

Das Auto als Statussymbol büßt dabei seinen Wert gar nicht unbedingt ein: Man muss es nur nicht mehr zwangsläufig besitzen. Gerade die jüngere Generation findet es attraktiver, sich mal das PS-starke Cabrio für den Sommerausflug und mal den voluminösen Kombi oder Transporter für den Möbelkauf auszuleihen – je nach Bedarf und Laune, flexibel und preisgünstig. Auf alles, was den Besitz eines Autos lästig macht – von der Instandhaltung über die TÜV-Prüfung bis zum Vergleichen von Versicherungen – verzichtet der Carsharer nur zu gerne. Manche Anbieter haben sogar eigene Stellplätze, sodass die lästige Parkplatzsuche entfällt. Wer Carsharing nutzt, fährt zudem fast immer die neuesten Modelle mit modernster Navigationstechnik und Bordelektronik. Und statt umständlicher Reservierungsprozesse genügt inzwischen ein Blick in die Smartphone-App, um den nächsten freien Wagen zu orten.

Das enDe Der plattensaMMlung Überhaupt ist es die Digitalisierung, die die Abkehr vom Besitz stark beschleunigt hat. Früher gehörte eine Wand voller Bücherregale zur Ausstattung eines Intellektuellen, ein Jazzfan musste meterweise Schallplatten oder CDs besitzen und ein ernstzunehmender Cineast zeigte stolz sein VHS-, dann sein DVD- oder Blu-ray-Archiv mit filmischen Meisterwerken vor. Heute kann selbst die größte Filmsammlung nicht mit der Auswahl mithalten, die Firmen wie Netflix (siehe „Hello / Goodbye“ auf Seite 54), Amazon Instant Video oder Apple iTunes Store bieten können. Für Musik und Bücher gilt Ähnliches: Auch hier verzichten immer mehr Menschen darauf, das physische Produkt besitzen zu wollen. Wie viele Bücher werden nach dem Lesen wirklich ein zweites Mal aus dem Regal geholt? Stattdessen genießen es viele, auf ihrem E-Reader über Onlinebibliotheken wie Amazon Prime oder auf ihrem Smartphone durch Musikstreaming-Dienste wie Spotify

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permanent Zugriff auf Tausende von Titeln zu haben. Oder den Film, den sie zu Hause angefangen haben, am nächsten Tag auf der Geschäftsreise im Hotel per Stream zu Ende schauen zu können. besitz besitzt! Wenn die Zeiten etwas gut können, dann bekanntlich sich ändern. Und das immer schneller. Die Produktzyklen werden kürzer, technische Innovationen folgen in immer rasanterer Folge aufeinander. Flexibilität wird deshalb immer wichtiger, Besitz dagegen oft als Stagnation begriffen, als der Flexibilität diametral entgegengesetzt. „Besitz besitzt“, wusste schon Friedrich Nietzsche. Und schrieb weiter: „Nur bis zu einem gewissen Grade macht der Besitz den Menschen unabhängig, freier; eine Stufe weiter – und der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum Sklaven.“ Der amerikanische Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin formulierte es etwas weniger martialisch und rief bereits zur Jahrtausendwende die „Zugangsgesellschaft“ aus. Was

Character

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August 2015

Ich brauche ein Loch in der Wand.

damals noch visionär klang, ist inzwischen Realität geworden: Landwirte kaufen häufig kein Saatgut mehr, sondern erwerben die Lizenz, es für eine Saison benutzen zu dürfen. Milliarden von Venture-Capital-Dollar fließen in US-Plattformen wie Uber, die jedem Autolosen einen Chauffeur auf Zeit vermieten. Und für den Familien-Brockhaus, der einst stolz von Generation zu Generation weitergegeben wurde, hat der Nachwuchs heute nur noch ein Schulterzucken übrig.

kostenlos beigelegt. Und wer möchte, mietet das teure Diamantencollier gleich zu einem Bruchteil des Kaufpreises dazu. Selbst Frauen, die sich den Kauf problemlos leisten könnten, geraten da plötzlich ins Nachdenken, ob sie für dasselbe Geld nicht lieber ein Dutzend Bälle in einem Dutzend verschiedener Kleider besuchen wollen, anstatt immer dasselbe auszuführen. Oder durch zwölf gekaufte den Kleiderschrank zu verstopfen.

unbegrenzter kleiDerfunDus Selbst im Bereich Mode ist der Paradigmenwechsel bereits angekommen: Auf Webseiten wie kleiderkreisel.de können Nutzer Kleidungsstücke, die sie nicht mehr tragen, gegen andere tauschen, die ihnen besser gefallen. Ohne Flohmarktmuff, 24 Stunden am Tag und selbst im entlegensten Weiler. Kundinnen, die mit einer eleganten Abendrobe beeindrucken wollen, können bei der amerikanischen Firma „Rent The Runway“ eine solche tageweise mieten. Professionell gereinigt, wird das Abendkleid versichert geliefert, eine Zweitgröße zur Sicherheit

Natürlich ist die Idee, dauerhaften Besitz durch zeitlich begrenzte Nutzungsmöglichkeit zu ersetzen, nicht erst seit gestern in der Welt. Öffentliche Bibliotheken gibt es seit Jahrhunderten. Und einen Monatsbeitrag im Fitnessstudio zu bezahlen, anstatt sich den Keller mit Sportgeräten vollzustellen, ist allgemein übliche Praxis. Technische Neuerungen wie Smartphones und GPS-Ortung, die permanente Vernetzung der Menschen durch das Internet sowie die Digitalisierung von Kulturgütern sorgen jedoch dafür, dass das Prinzip des

Besitzes in immer mehr Bereichen an Attraktivität verliert. Umwelt- und Ressourcenschonung tragen zusätzlich dazu bei, den „Ko-Konsum“, also das Leihen, Mieten, Tauschen und Teilen, im momentan angesagten Werte- und Weltbild attraktiver zu machen. Die eigenen vier wänDe Eine große Ausnahme gibt es jedoch: Auch wenn die Deutschen im internationalen Vergleich traditionell häufig zur Miete wohnen, kehrt sich der Trend langsam um. So ist die Wohneigentumsquote seit 1993 von rund 39 Prozent auf 46 Prozent gestiegen. Besitz ist also durchaus noch erstrebenswert – wenn es um die eigenen vier Wände geht. Selbst wenn beim nächsten Klassentreffen „mein Auto“ also das aktuelle CarsharingModell meint und „mein Boot“ über eine Onlineplattform gemietet wurde – „mein Haus“ soll für viele doch bitte schön immer noch das eigene sein und bleiben. Text: Christoph Koch

Tradition

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UNTERNEHMEN MIT TRADITION

Cooles altes Handwerk Die Schuhfabrik van Bommel Traditionsbetrieb, Hoflieferant – und Hersteller ausgeflippt bunter Schuhe: Van Bommel ist in den Niederlanden eine feste Größe. Das Unternehmen blickt auf mehr als 280 Jahre Geschichte zurück und gibt sich heute umso wilder. Mit der jungen Marke Floris van Bommel ist das Unternehmen angesagter denn je.

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Unternehmen mit Tradition

Character

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Umgeben von Leisten: Der 40-jährige Floris van Bommel ist der Kreativchef des Schuhherstellers van Bommel – und vertritt das Unternehmen auch in Werbekampagnen.

Tradition

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es gibt nicht viele schuhMacher auf Der welt, Die solche Designs Mit Den alten techniken verbinDen.

Floris van Bommel

Idee und Umsetzung: Die neuen Schuhkollektionen werden erst im Designraum entworfen, bevor sie in der Schuhfabrik produziert werden.

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Unternehmen mit Tradition

Character

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Kreativ mit Leder: Das Design eines neuen Schuhs entsteht.

Schwer, schwarz und robust – so klassisch soll der Stiefel nicht bleiben: Mit sicheren Handgriffen

schuhproDuktion in neunter generation

befestigt der Mann an der Nähmaschine einen dicken

für Modemanagement steckte. „Das war einfach eine Notwendigkeit“, erklärt Floris van Bommel. „Denn andere Schuhmarken wurden trendiger. Und dank

Lederstreifen in einem auffälligen Grün unter dem

Die „Schoenfabriek van Bommel“ ist eine nieder-

Internet konnten die Kunden sehen, was sich die

Schuh. Dieser „Rahmen“ wird später die Sohle am

ländische Institution. Das Unternehmen mit Sitz in

Hersteller in anderen Ländern ausdachten.“

Stiefel halten – und aus dem konservativen Schuh-

Moergestel bei Tilburg fertigt seit 1734 Schuhe und

werk einen richtigen Hingucker machen. „Rahmen-

ist damit einer der ältesten Schuhhersteller Europas.

Der Senior bewies das richtige Gespür: Die Marke

genähte Schuhe haben besondere Vorteile – aber auch

„Damals produzierte die Familie noch zu Hause

Floris van Bommel verlieh dem altehrwürdigen

Nachteile“, sagt Floris van Bommel. „Der Schuh ist

und war in einer Zunft“, erzählt van Bommel. „Das

Handwerk Schwung. Verkaufte van Bommel 1997

komfortabel und einfach zu reparieren. Aber der

Geschäft entwickelte sich von Vater zu Sohn weiter.“

noch 180.000 Paar Schuhe pro Jahr, waren es 2014

Style ist vorgegeben, und der Schuh sieht sehr

Heute wird die Schuhfabrik in neunter Generation

knapp eine halbe Million. Der Umsatz betrug in den

schwer aus.“

von einem Brüder-Trio geführt: Der 42-jährige

vergangenen beiden Jahren jeweils rund 41 Millionen

Reynier van Bommel ist Vorsitzender der Geschäfts-

Euro.

Der Niederländer mit den zerzausten Haaren, dem

führung, der 35-jährige Pepijn van Bommel leitet

Dreitagebart und dem Tattoo auf dem Unterarm

den Vertrieb. Der 40-jährige Floris van Bommel ist

geht durch die Produktionshalle und zieht einige

für Design und Marketing verantwortlich – und das

Schuhe von Regalen und Werkbänken – Schuhe

Gesicht des Unternehmens.

alte werte … bla, bla, bla … Van Bommel verbindet Tradition und Moderne. „Wir sind sehr alt, deshalb haben wir automatisch viele

mit leuchtend blauen Abnähern, rosa Sohlen oder grünen Grashalmen, die per Laser in den Hacken

Das hat er seinem Vater Frans zu verdanken. Zwar

Werte. Der wichtigste davon ist Qualität“, sagt der

graviert sind. Beim Design scheint alles erlaubt,

arbeitete das Unternehmen seit dem Zweiten Welt-

Kreativchef. In den 1980er-Jahren verloren viele

auch wenn das Schuhwerk ganz traditionell in bis

krieg stets profitabel. Dennoch beschloss der damalige

niederländische Schuhhersteller gegen die günstigere

zu 280 Arbeitsschritten entsteht. „Es gibt nicht viele

Firmenchef im Jahr 1996, dass es Zeit wäre für eine

Konkurrenz aus Italien. „Man konnte den Wettbewerb

Schuhmacher auf der Welt, die solche Designs mit

Verjüngung. Also hob er eine trendige Zweitmarke

nicht über den Preis entscheiden.

den alten Techniken verbinden“, sagt van Bommel.

aus der Taufe und benannte sie nach seinem zweitältesten Sohn, der damals noch mitten im Studium

Tradition

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Unternehmen mit Tradition

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„wir haben keine anteilseigner, sonDern brüDer.“ Floris van boMMel über kurzFristige trenDs unD langFristige Werte

Geben Sie uns als Kreativdirektor doch mal einen Styling-Tipp. Was trägt Floris van Bommel gerne selbst? Schwarz! Schwarz ist gut, Schwarz ist cool. Aber wenn man es genau nimmt, gibt es so viele verschiedene Trends und Styles. Deshalb ist es immer schwer zu sagen, was genau gerade angesagt ist. Was ist denn letztlich wichtiger – hip zu sein oder vernünftiges Handwerk zu liefern? Wir waren nie trendy. Wir machen einfach gute Schuhe. Cool zu sein ist wichtig, aber die Qualität ist wichtiger. Wir wollen langfristig wachsen, und das geht nicht, wenn man jedem kurzfristigen Trend hinterherläuft. Wie bewahrt man solche grundsätzlichen Werte auf neuen Märkten? Qualität ist ein alter Wert. Aber nehmen wir die Expansion in Deutschland: Wir verkaufen seit mehr als 80 Jahren in Deutschland Schuhe, der Absatz ging jedoch in den 1990ern zurück, weil alte Werte immer unwichtiger wurden. Also haben wir mit der Linie Floris van Bommel einen neuen Wert geschaffen – mit einem komplett neuen Design und komplett neuer Kommunikation. Und es funktioniert.

Klassisch, aber neu: Paarweise reihen sich Schuhe in der Fabrik auf – noch ohne Schnürsenkel.

Hilft es dabei, dass van Bommel ein Familienunternehmen ist? Es ist Spaß. Wir haben keine Anteilseigner, sondern Brüder – und die sind gute Freunde. Nach der Arbeit gehen wir zum Fußball oder zu Konzerten. Ähnlich ist es bei der Arbeit: Wir sind uns einig, auf unserer Marke aufzubauen und langfristig zu wachsen. Natürlich gibt es Diskussionen, aber wir treffen die wichtigen Entscheidungen gemeinsam – der Schritt nach Deutschland war ein Teil davon. Sie arbeiten auch mit Testimonials zusammen – vom Schauspieler Rutger Hauer bis zum Fußballer Philipp Lahm. Wie begeistern Sie diese Leute für Ihre Marke? Wichtig ist, dass wir die Leute mögen. Sie müssen seit vielen Jahren sehr gut sein in den Dingen, die sie machen. Talentierte Leute sind wichtiger als angesagte Leute. Und sie müssen „real“ sein – wir würden zum Beispiel nicht mit einem Soap-Star arbeiten. Wir machen das nicht, um sofort mehr Schuhe zu verkaufen, sondern um auf unserer Unternehmensgeschichte aufzusetzen und sie weiterzuerzählen.

Tradition

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Unternehmen mit Tradition

Traditionell: Die Sohle eines Schuhs wird genäht.

Also entschied sich die Familie für Qualität“, führt van

Rund 300 neue Modelle entwirft van Bommel mit

groß starten, und das geht nur mit Investoren“, sagt van

Bommel aus. Nicht umsonst erhielt das Unternehmen

seinem Team pro Saison. Die rahmengenähten Stücke

Bommel. Doch der Schuhhersteller ist ein Familienbe-

bereits zwei Mal den Titel als Lieferant des Königlichen

werden noch direkt vor Ort in Moergestel – in der

trieb, und das soll auch künftig so bleiben. „Wir wollen

Hofes in den Niederlanden. Der Auftritt van Bommels

einzigen verbliebenen Schuhfabrik der Niederlande –

ein solides Wachstum unter eigener Regie und nicht

ist jedoch alles andere als traditionell: „Wir machen die

gefertigt. Der Großteil der Produktion, darunter auch

abhängig sein von anderen Unternehmen.“

Dinge so, wie wir sie machen wollen.“ Soll heißen: Das

einfach genähte und geklebte Modelle, stammt inzwi-

Unternehmen traut sich heute nicht nur an ausgefallene

schen aus Spanien und Portugal. Zum Beispiel ein

Schuhdesigns, sondern gibt sich insgesamt direkt,

Paar Sneaker in greller Schlangenlederoptik. Ob es für

persönlich und zuweilen mit Augenzwinkern. So posiert

derlei Kreationen einen großen Markt gibt? „Nein“,

Spielzeugroboter schmücken das Büro von Floris van

Floris van Bommel, dessen schwarzer Dodge Challenger

sagt van Bommel und grinst. Deshalb bringt er die

Bommel, es finden sich Modellautos und Figuren aus

auf dem Firmenhof steht, auf Anzeigenmotiven als

auffälligen Stücke in limitierter Auflage unter dem

den „Zurück in die Zukunft“- und „Ghostbusters“-

Dressman mit reichlich Rock-Appeal. Er lässt sich mit

Label „Floris van Bommel Premium“ in die Läden.

Filmen. In einer Ecke stapeln sich einige Kisten mit

Prominenten wie Fußballnationalspieler Philipp Lahm und Schauspieler Daniel Brühl ablichten oder wirbt

alten, ausgetretenen Schuhen. Ein „B“ schmückt die

Der schritt nach DeutschlanD

selbstironisch mit Slogans wie „Floris van Bommel, since 1734 bla, bla, bla …“.

Die sohle Mit lanDkarte

alte schuhe iM MuseuM

Schuhe, noch ein sehr altes Logo für „van Bommel“. „Leute schicken mir diese Sachen überall aus den

Wagemutig zeigt sich van Bommel nicht nur bei

Niederlanden“, erklärt der Kreativchef. Der Grund:

seinen Designs, sondern auch bei der Expansion ins

Die Sachen wandern in ein kleines Firmenmuseum,

Ausland. „Es ist notwendig zu wachsen“, sagt er. In

das in der Schuhfabrik untergebracht ist.

Belgien verfügt das Unternehmen bereits über eine Im Designraum der Schuhfabrik wird diskutiert:

starke Präsenz. Nun folgt der Schritt nach Deutsch-

Alte Maschinen stehen dort, Schuhmacherwerkzeuge

Mitarbeiter brüten über den Entwürfen der kommenden

land. „Bevor wir in andere Länder gehen, wollen wir

wie Hammer oder Zangen, uralte löchrige Schuhe – all

Damenkollektion. Musterstücke stehen daneben. Die

erst in Deutschland erfolgreich sein.“ Dabei setzt van

das Stücke einer langen Geschichte. Floris van Bommel

Wände rundherum sind gesäumt von Schuhen in

Bommel zunehmend auch auf eigene Läden, um den

hat auch gerade eine „Arbeitslijst“ von 1963 bekom-

knalligen Farben und ungewöhnlichen Materialien.

Kunden das ganze Spektrum der Kollektion zu zeigen.

men, auf der die früheren Arbeitszeiten in der Fabrik

„Schuhe sind für mich vor allem Arbeit“, sagt Floris

Seit 2014 sind es in Deutschland mit Köln und Düssel-

eingetragen sind. Er nickt anerkennend und lacht: „Die

van Bommel. „Aber der eigentliche Spaß ist, eine Idee

dorf zwei Geschäfte, bis 2017 sollen weitere in Berlin,

hatten früher wirklich einen langen Tag. Heute haben

zu haben und einige Gags in den Schuh einzubauen.“

Hamburg, Frankfurt, München und Stuttgart folgen.

wir dagegen vier Mal am Tag Pause.“

Und so nimmt er einen Sneaker zur Hand und dreht ihn um: Die Sohle zeigt eine Karte der Niederlande, und

Nach der Expansion in Deutschland stehen Skandina-

dort, wo sich der Firmensitz Moergestel befindet, ist ein

vien und Großbritannien auf der Liste. Asien dagegen

kleines „X“ eingearbeitet.

ist derzeit kein Thema: „In China müssten wir sehr

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Text: Frank Paschen

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Roh-Stoff: Anhand von Lederproben, die neben dem Designraum lagern, testen die Schuhmacher ihre neuen Kreationen.

Gegenwart

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Perspektivenwechsel

perspektivenwechsel

Das fahrraD – WaruM in Die PeDale treten? Fahrradfahren ist angesagt. Wer auf zwei Rädern daherkommt, liegt im Trend. Dabei kann es auch ganz praktische Gründe geben, um in die Pedale zu treten. Zum Beispiel, um im Gewimmel der Großstadt zügig zur Arbeit zu kommen. Oder um damit sein Geld zu verdienen und bis ins hohe Alter fit zu bleiben.

für gesunDheit unD natur Morgens ist es am schönsten. Zwischen acht und neun Uhr in der Früh hole ich eines meiner drei Rennräder aus der Garage. Wenn die Straße feucht ist, nehme ich das älteste mit den Schutzblechen – damit die Nässe nicht hochspritzt. Und dann geht es los. Die übliche Runde: von Krefeld aus den Niederrhein hoch, über die Grenze nach Holland und dann zurück nach Hause. Das sind meist zwischen 80 und 100 Kilometer, überwiegend auf verkehrsarmen Wirtschaftswegen. Ich fahre fast jeden Tag, manchmal mit einer Gruppe, oft aber auch allein. Pro Woche kommen so gut 500 Kilometer auf den Tacho. Auch im Winter steige ich aufs Rad. In Thermokleidung, die hält prima warm. Nur wenn es sehr stark regnet, setze ich aus. Das brauche ich nicht mehr. Früher als Amateur und später als Profi in den 1950er- und 1960er-Jahren bin ich natürlich bei jedem Wetter gefahren. 200, 230 Kilometer am Tag. Oft im Bergischen Land oder auch im Westerwald, gemeinsam mit

Rudi Altig. Das war ein gutes Training für die Rennen in den Bergen. Zum Beispiel für die Tour de France, den Giro d’Italia oder die Tour de Suisse, die ich zweimal gewonnen habe, 1959 und 1962 war das. Die Tour de France bin ich acht Mal mitgefahren. 1960 bin ich als Vierter in Paris angekommen – das war meine beste Platzierung.

nach dem Ende meiner aktiven Zeit hat mich das Radfahren nicht losgelassen. Da habe ich als Trainer gearbeitet. Viele Fahrer, die in den 1990er-Jahren für Furore sorgten, habe ich betreut. Erik Zabel zum Beispiel. Oder Rolf Aldag und Udo Bölts. Wie viele Kilometer ich in meinem Leben geradelt bin? Mehr als 1,5 Millionen werden es schon sein. Vielleicht auch zwei Millionen. Ich habe sie nie gezählt.

Heute radele ich für die Gesundheit. Ich genieße das, erfreue mich an der Natur. Das ist Erholung, keine Quälerei. Mein Tempo? Zügig, würde ich sagen. Rasen muss ich nicht, das ist vorbei. Ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Aber wenn andere, deutlich jüngere Mitfahrer sagen: „Mensch, Hennes! Du bist aber noch gut drauf“, dann freut mich das natürlich schon. Das Fahrrad ist mein Begleiter durchs Leben. Mehr noch: Es ist mein Lebensinhalt. Als Kind hatte ich auf dem Weg zum Fußballplatz ein Radrennen verfolgt und danach bei meinen Eltern so lange gequengelt, bis sie mir einen Renner gekauft haben. Auch

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hennes JunkerMann, 81 Ex-Radprofi, achtmaliger Teilnehmer der Tour de France, fährt immer noch 500 Kilometer pro Woche

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Den kopf Durchpusten Es ist schwarz, hat acht Gänge, einen Lastengepäckträger vorne und ist ein Holländer aus dem Hause Gazelle: mein Fahrrad. Ich nutze es vor allem als Verkehrsmittel. Weder U-Bahn noch Auto bringen mich morgens so flott von meiner Wohnung im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel in die Agentur am Rödingsmarkt wie das Rad. Das Beste: Ich fahre direkt bis vor die Tür. Und muss nicht noch ewig um den Block kurven, um einen Parkplatz zu ergattern. Mein Arbeitsweg ist vier Kilometer lang. Die gehe ich gemütlich an. Mit einem Hollandrad lässt sich ohnehin kein Tempo machen. Dafür ist es viel zu schwer. Meist nehme ich mir 20 bis 25 Minuten Zeit. Zugegeben, die Strecke ist nicht sonderlich schön. Es geht meist entlang verkehrsreicher Straßen. Immerhin ist keine große Steigung dabei! Viele Radwege in Hamburg sind in einem schlechten Zustand oder sie sind mangelhaft gekennzeichnet. Kein Wunder, dass die Stadt von der Fahrradlobby als nicht sonderlich zweiradfreundlich eingestuft wird.

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In der Agentur angekommen, bin ich froh, mich schon ein wenig bewegt zu haben. Und auch der Kopf ist „durchgepustet“ – so lässt es sich gleich konzentriert an die Arbeit gehen. Am Abend ist es ähnlich: Beim Radeln nach Hause sortiere ich meist noch ein paar Dinge, die mich tagsüber im Büro beschäftigt haben. Das hilft, Abstand zu gewinnen.

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Ein bisschen Angst, dass mir mein Radl gestohlen wird, habe ich schon. In Hamburg kommen viele Fahrräder weg. Zu Hause stelle ich es – gut abgeschlossen – vor die Tür. Ich könnte es auch in den Keller tragen. Aber dafür ist es mir zu schwer. Protokoll: Stefan Weber

Meine Kleidung? Ich steige in jedem Outfit aufs Rad. Auch mit Rock oder Hosenanzug. Das Hollandrad verfügt über einen Kettenkasten; da muss ich keine Angst haben, dass Hose oder Strümpfe schmutzig werden. Vor Kurzem habe ich mir einen Regenponcho gekauft, um auch bei leichtem Regen trocken anzukommen. Viele meiner Kollegen kommen inzwischen auch mit dem Rad in die Agentur. Manche im Sportdress, die ziehen sich dann im Büro um. Der eine oder andere schmunzelt über den Lastengepäckträger an meinem Rad. Aber der ist superpraktisch. Er bietet Halt für einen großen Korb, in dem sich viele Sachen verstauen lassen – und zwar so, dass man sie im Blick hat.

anDrea bluM, 36 Teamleiterin bei der Kommunikationsagentur Raikeschwertner in Hamburg

Zukunft

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Für morgen

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für Morgen

wenn Die glühbirne Das haus lahMlegt ist Der trenD zuM sMart hoMe sinnvoll? Bis 2020 soll es in Deutschland eine Million Smart Homes geben. Doch was auf den ersten Blick erstrebenswert erscheint, hat noch seine Tücken. Das Problem: Es gibt derzeit keinen einheitlichen Standard. Für Verbraucher ist der Markt zu unübersichtlich und zu kompliziert.

Rául Rojas ist von Natur aus ein neugieriger Mensch. Und um seine Neugier zu befriedigen, scheut der Informatikprofessor auch keine Selbstversuche: Rojas konzipierte 2008 sein damals im Bau befindliches Privathaus in Berlin als intelligentes Heim, neudeutsch auch „Smart Home“ genannt. Intelligent heißt, alle elektronischen Geräte, vom Kühlschrank bis zur Heizung, sind in seinem Haus vernetzt und per Internet über Laptop oder Smartphone steuerbar. Er kann weltweit überprüfen, ob er alle Fenster und Türen geschlossen hat. Egal, wo sich Rojas auf der Erde befindet, er kann per Smartphone seine Jalousien herauf- oder herunterlassen. Auch sämtliche Lichtschalter kann der Deutsche, geboren in Mexico City, von jedem beliebigen Ort der Welt bedienen. Immer vorausgesetzt, er hat Zugang zum Internet. „Ich wollte wissen, wie ein Smart Home in der Praxis funktioniert“, erklärt Rojas. Nun ist Rojas spezialisiert auf künstliche neuronale Netze an der Freien Universität Berlin. Wenn nicht er sich für ein Smart Home begeistert, wer dann? Er selbst beschreibt sich als „Innovator“ und fügt scherzhaft hinzu: „Das sind die Leute, die alles kaufen, nur weil es neu ist.“

licht einschalten per sMartphone? Der normale Verbraucher ist jedoch mit den Funktionen und Produkten eines Smart Homes, insbesondere mit der Auswahl verschiedener Systeme überfordert. Mangels Wissen kann er nur schwer Qualität und Funktionalität beurteilen. Für die sprichwörtlichen Lieschen Müller oder Otto Meier sind Begriffe wie „Energy Harvesting“ oder „Interoperabilität“ böhmische Dörfer. Armin Anders hat sich als Ingenieur und Mitgründer der EnOcean GmbH bereits seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt und befindet, dass bislang jeder sein „eigenes Süppchen“ kochte (siehe Interview). In der Vergangenheit hatten Hersteller auf Messen häufig Funktionen präsentiert, die niemand wirklich benötigt. So würden laut Anders Hausbesitzer auch künftig das Licht mit Wandschaltern einund ausschalten wollen – und nicht etwa per Smartphone. Eines der Hauptprobleme ist, dass die verschiedenen Systeme nicht miteinander kompatibel sind. Die Branche verfügt über keinen einheitlichen technischen Standard. Wer heute ein Haus neu baut, muss sich aus einer Vielzahl

für ein System entscheiden – und ist diesem dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Diese Abhängigkeit von einem System fällt insbesondere bei Störungen ins Gewicht. kleiner fehler, grosse wirkung Und die kennt Rojas aus eigener leidvoller Erfahrung, denn vor genau einem Jahr ging plötzlich nichts mehr: Sein Haus war „eingefroren“, der Zustand ähnelte dem eines abgestürzten Computers. „Die Lampen, die angeschaltet waren, blieben an. Die Lampen, die aus waren, blieben aus. Ich konnte nichts verändern“, erinnert sich Rojas. Der Informatiker machte sich selbst per Laptop auf die Suche nach dem Fehler in seinem Netzwerk und fand eine kaputte Glühbirne, die aufgrund ihres Defekts pausenlos Fehlermeldungen sendete und damit die Leitungen im gesamten Haus lahmlegte. Die Vernetzung erwies sich als Nachteil. Indem er die Glühbirne vom Netz nahm, konnte Rojas den Fehler sehr einfach beheben. Doch ein Normalsterblicher hätte das nicht gekonnt.

Zukunft

Für morgen

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Rojas: „Sie kaufen ein System und sind dann dem einen speziellen Elektriker, der den Kundendienst für genau diesen Anbieter macht, ausgeliefert, denn kein anderer Elektriker kennt sich damit aus.“ Entscheidend für die Nutzerakzeptanz wird seiner Ansicht nach sein, dass sich die Industrie auf einen einheitlichen Standard einigt, ähnlich den Computern: Dort gibt es weltweit nur zwei Systeme, zwischen denen sich der Verbraucher entscheiden kann. Rojas: „Derzeit gibt es kein Plug-and-Play.“ einheitliche systeMe Wesentlich optimistischer gibt sich Bitkom, der Verband der digitalen Wirtschaft mit Sitz in Berlin. Laut deren Marktprognose von Oktober 2014 sei 49 Prozent aller Deutschen, also fast jedem Zweiten, das Wort „Smart Home“ ein Begriff. Das heißt umgekehrt aber auch, dass 51 Prozent der

befragten Deutschen damit nichts anfangen können. Weniger als die Hälfte, genau 44 Prozent, wissen, was mit „Smart Home“ überhaupt gemeint sein soll. Der Verband Bitkom prognostiziert dennoch, dass bis 2020 mindestens eine Million deutscher Haushalte nach dem Prinzip Smart Home funktionieren. „Wir sind mit solchen Prognosen vorsichtig, da diese eine harte Definition des Begriffs Smart Home voraussetzt. Diese existiert so aber in der Branche noch nicht“, erklärt Arnaud Hoffmann, Referent für das Thema Gebäudeautomation im Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI). Grundsätzlich geht es dem DiplomIngenieur weniger um Gimmicks wie sprechende Kühlschränke, sondern um sinnvolle Ansätze wie Ambient Assisted Living (AAL), welches es älteren Menschen ermöglicht, länger zuhause zu wohnen.

Hoffmann: „Ein intelligentes Raumkonzept berücksichtigt auch typische Verhaltensmuster des Bewohners. Wenn beispielsweise morgens um 10 Uhr noch kein Wasser verbraucht oder kein Lichtschalter gedrückt wurde, kann das darauf hindeuten, dass etwas nicht stimmt, und jemand nachschaut, ob alles in Ordnung ist.“ Im Zweckbau habe sich die Gebäudeautomation schon durchgesetzt, der Privatmarkt stehe dagegen noch in den Anfängen. Es gibt laut Hoffmann zwar schon ein paar große Anbieter, derzeit drängen aber noch viele weitere nach. „Für Privatkunden ist der Markt derzeit noch unübersichtlich. Aber allein die Tatsache, dass sich Konzerne wie Google, Amazon und Apple für den Markt interessieren, zeigt schon, wie relevant das Thema für die Zukunft ist. Und damit wird sich auch die Anwenderfreundlichkeit verbessern.“

kleines sMart-hoMe-lexikon Energy Harvesting und Interoperabilität – so smart die neuen Häuser erscheinen, so umständlich klingen noch die Fachbegriffe. Welches Vokabular begegnet Verbrauchern derzeit auf der Suche nach dem intelligenten Heim?

Aktor setzt Informationen wie die Daten eines Sensors in eine aktive Funktion um, indem er Geräte steuert. Beispiele: ein Aktor, der das Licht einschaltet oder die Auf- / Abwärtsbewegung von Jalousien aktiviert oder das Ventil am Heizkörper auf- bzw. zudreht. BUS ist ein Leitungssystem, das in einem neu zu bauenden Smart Home installiert wird, um Daten und / oder Energie zwischen verschiedenen elektronischen Geräten wie Sensoren und Aktoren auszutauschen. Die Kommunikation läuft über das installierte BUS-System. Sensor misst physikalische oder chemische Größen wie Temperatur, Feuchtigkeit, Helligkeit und kommuniziert mit dem Aktor.

Energy Harvesting bezeichnet das Ernten von Energie, die in der Umgebung sowieso vorhanden ist. Das können Temperaturunterschiede in einem Raum sein, aber auch die Energie, die durch das Drücken einer Taste entsteht, oder Licht. Es macht Batterien, z. B. in Sensoren oder Aktoren, überflüssig und damit auch den lästigen Batteriewechsel. Funklösung ersetzt Kabel und ist damit auch für bereits bestehende Häuser eine denkbare Lösung, ohne deren Wände aufreißen zu müssen, um dort neue Kabel zu verlegen (siehe BUS). Interoperabilität Geräte eines Systems funktionieren miteinander, auch wenn sie von verschiedenen Herstellern stammen.

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„nieManD will Mit seineM kühlschrank sprechen.“ DoCh Das sMart hoMe ist ein Muss: intervieW Mit FaChMann arMin anDers

Armin Anders, 51, ist Vice President Business Development und Mitgründer der EnOcean GmbH. Das Unternehmen mit 50 Mitarbeitern in Oberhaching bei München wurde 2001 als Spin-off der Siemens AG gegründet. EnOcean ist Entwickler und Hersteller von batterielosen Funksensoren.

Herr Anders, bei dem Thema „Smart Home“ taucht immer wieder der Begriff „sprechender Kühlschrank“ auf. Wird es den bald geben? Nein, ich glaube, niemand will mit seinem Kühlschrank sprechen. Aber dieses Bild hält sich so hartnäckig, weil es griffig ist. Das „intelligente Heim“ entwickelte sich nicht von Küchengeräten, sondern sein Ursprung liegt in der Automation der Klimatisierung, Beschattung und Beleuchtung von Gebäuden. Warum brauchen Menschen überhaupt ein Smart Home? Auf den ersten Blick klingt Smart Home vielleicht nach Spielerei und Luxus. Vor 20 Jahren dachten aber auch viele Autofahrer, dass elektronische Fensterheber unnötig seien. Smarte Lösungen im Haus sparen Energie und bieten Sicherheit sowie Prestige. Die intelligente, eben „smarte“ Regelung von Lüftung, Klima, Beschattung und Beleuchtung wird in absehbarer Zeit fester Bestandteil von Wohnungen und Privathäusern sein.

Wie lässt sich denn damit Energie sparen? Ein entscheidendes Stichwort lautet hier „intelligente Einzelraumregelung“: Dabei steuern Temperatursensoren, Bewegungsmelder, Heizkörperstellventile und Schalter als kleine Helfer die Raumtemperatur optimal entsprechend der Bedarfssituation und der persönlichen Bedürfnisse. Damit lässt sich bis zu 30 Prozent Energie einsparen. Wenn Sie berücksichtigen, dass 40 Prozent des Weltenergiebedarfs vor allem für das Heizen oder Kühlen von Gebäuden verwendet wird, ist das Smart Home keine Option mehr, sondern ein Muss. Bislang hat sich das Smart Home nicht durchgesetzt. Warum? Zum einen waren die Systeme verschiedener Hersteller bislang nicht kompatibel, jeder kochte sein eigenes Süppchen. Ingenieure neigen zudem dazu, nach komplizierten Lösungen zu suchen: Auf Messen wurde bislang immer vorgeführt, wie man mit dem Smartphone das Licht an- und ausschalten kann, doch das braucht kein Mensch wirklich. Ein praktischer Grund ist auch, dass viele Smart-Home-Installationen nur mit Kabellösungen machbar waren. Das bedeutete, dass man in bereits gebaute Häuser nicht mehr reinkommt, weil es teuer, aufwendig und nicht schön ist. Text: Geraldine Friedrich

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12 Dinge, die man tun sollte

12 Dinge, Die Man tun sollte

von Der intelligenz Der kleinen schritte unD DeM glück Der grossen gefühle Wie in ihrem Cellospiel, so findet Sol Gabetta auch im Leben immer wieder Harmonie und Gleichgewicht, wohl wissend, dass Balance niemals statisch, sondern ein ständiges Schwingen in feinsten Nuancen ist.

12 Dinge, die man tun sollte

1. Den eigenen gefühlen unD überzeugungen folgen.

2. Melancholie zulassen.

3. Mehr geben als nehMen. Das Macht glücklich.

4. singen – auch wenn Man glaubt, Man sei nicht Musikalisch. JeDer kann singen.

5. iM augenblick sein.

6. wenigstens einMal iM Jahr für zwei wochen nichts tun. freunDe sehen, sich verwÖhnen lassen.

7. so oft wie MÖglich Mit Der faMilie zusaMMen sein.

8. lieber kleine schritte gehen als grosse sprünge Machen.

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9. üben, üben, üben! Das leben ist ein lernprozess.

10. zeit nicht nur verbrauchen, sonDern ihr rauM geben. zeit Muss klingen.

11. nach argentinien reisen!

12. einen lÖwen streicheln.

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Der Schein trügt: Die Tempelarchitektur ist nicht in Japan, sondern in Düsseldorf zu finden. Die Stadt ist einer der bedeutendsten Lebens- und Wirtschaftsstandorte außerhalb Japans.

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MehrWerte

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Mehrwerte

klein-tokio aM rhein JaPanisChe kultur in DüsselDorF Fremde Länder, fremde Sitten – stimmt das noch? Deutschland ist längst Heimat geworden für Menschen aus unzähligen Ländern auf der ganzen Welt. Mit ihrer Kultur und ihren Werten prägen sie das Miteinander in zahlreichen Städten. Grund genug für CHARACTER, diesen „MehrWerten“ nachzuspüren. Den Auftakt macht die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt, die nicht nur bekannt ist für Mode und Altbier, sondern auch als Heimat für Tausende von Japanern.

Der Mann schlendert nicht, er geht zielstrebig die Immermannstraße im Herzen Düsseldorfs entlang. Im dunklen Anzug mit Krawatte, die grauen Haare akkurat gescheitelt. Yasuo Inadome (54) hat vieles der deutschen Kultur angenommen, allerdings nicht das langsame Spazieren. Düsseldorf gilt in Europa als Zentrum der japanischen Bewegung – „Klein-Tokio“ sozusagen. Und die Immermannstraße mit ihrer Mischung aus japanischen Backwarengeschäften und Vertriebsniederlassungen japanischer Maschinenbauer verrät ein Stück der Geschichte, warum Inadome als 25-Jähriger seine Geburtsstadt Tokio verließ, um im Rheinland zu leben. „Der Reichtum an Natur und Kultur führte mich nach Deutschland, um hier die Sprache zu lernen – und schließlich bin ich für mein Unternehmen im Rheinland geblieben“, er-

klärt Inadome, European Compliance Officer beim Optikgerätehersteller Topcon Europe. Inadome, der deutsche Geschichte studiert hat, wählt seine Worte sehr überlegt. In seiner Freizeit fungiert er als ehrenamtlicher Vorstandssprecher des Japanischen Clubs – dem zweiten Zuhause vieler Japaner in Düsseldorf. 1964 gründeten Kaufleute und Unternehmen besagten Club, der heute gleich um die Ecke in der Oststraße liegt. Mehr als 8.000 Japanische einwohner Mit japanischem Fernsehprogramm und einer Bibliothek mit Originalliteratur und Manga-Comics wirken die Räume auf den ersten Blick wie ein Refugium für Exilanten, die sich nach der Heimat sehnen. Doch der Eindruck täuscht: „Ich kenne keinen Japaner, der gerne aus Deutschland nach Japan zurückgekehrt ist“, meint Inadome.

Japaner wurden schon 1951 mit offenen Armen am Rhein empfangen – als Einkäufer für schwerindustrielle Waren, die das durch den Krieg stark zerstörte Japan dringend zum Wiederaufbau benötigte. Stahl und Maschinenbauteile wurden gleich nebenan im „Ruhrpott“ zwischen Essen und Bochum hergestellt. In Düsseldorf, dem „Schreibtisch des Ruhrgebiets“, entstanden in der Immermannstraße die ersten Büros für die Geschäftsleute. Heute leben mehr als 8.000 Landsleute in und um Düsseldorf. Viele werden mit ihren Familien bis zu fünf Jahre von japanischen Unternehmen an den Rhein entsandt, was einer Auszeichnung gleichkommt.

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MehrWerte

Willkommen im Club: Yasuo Inadome, Vorstandssprecher des Japanischen Clubs, hat mehr als sein halbes Leben im Rheinland verbracht.

fleiss, orDentlichkeit unD pünktlichkeit Die Jahre in Deutschland sind für viele Japaner verbunden mit der Aussicht auf weniger Zwänge. „Das Leben in Japan verläuft oftmals viel hektischer und bietet wenige Möglichkeiten, Zeit mit der Familie zu verbringen – das ist in Deutschland anders“, berichtet Inadome. Auf der anderen Seite fühlten sich die Volksseelen geradewegs zueinander hingezogen: „Wir haben eine ähnliche Mentalität, wir wissen Fleiß, Ordentlichkeit und Pünktlichkeit zu schätzen.“ Fremdenfeindlichkeit ist Inadome im Rheinland noch nie entgegengeschlagen – genauso wenig wie der japanischen Gemeinschaft. „Ich kenne niemanden, der hier Probleme hat.“ Viel eher ist der Vorstandssprecher des Japanischen Clubs so intensiv mit der deutschen Lebensweise verbunden, dass er nicht nur Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU in seiner Heimatgemeinde Viersen ist, sondern auch beim jährlichen Schützen-

umzug mitmarschiert. „Das ist jedes Jahr ein ganz besonderes Erlebnis für mich, genauso wie die Karnevalsumzüge, an denen sich der Japanische Club beteiligt.“ Andererseits wächst das Interesse der Deutschen an der japanischen Kultur immer mehr – schließlich präsentiert sich Japan jedes Jahr direkt vor der Haustür: Das Japan-Fest, das zuletzt im Mai am Düsseldorfer Rheinufer stattfand, zählt mit 650.000 Besuchern aus ganz Deutschland zu den größten seiner Art in Europa. Die Besucher wickelten Kimonos, falteten Origami, erlernten Kampfkunst – und wollten vor allem den Manga- und Anime-Figuren der japanischen Comic-Kunst mit den schrillen Kostümen und Langhaarperücken nahe sein. Deren meist deutsche Fans treffen sich seit wenigen Jahren zu Tausenden auf der DoKomi, einer japanischen Comic-Kulturveranstaltung in der Düsseldorfer Messe. Der wachsende „offene Charakter“ vieler Deutscher schafft so gelungene Integration in beide Richtungen – und das, obwohl die meisten Japaner nicht dauerhaft nach Deutschland emigrieren.

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auf Japanischen spuren Inmitten der hohen, zweckmäßigen Nachkriegsgeschäftshäuser in der Immermannstraße schlägt das japanische Herz der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Wer traditionelle Gerichte wie Sushi und Ramen, japanische Küchenkräuter in Pflanzkübeln oder Haushaltswaren wie die scharfen Santoku-Kochmesser sucht, wird dort fündig. „Die kaufen hier allerdings nur Deutsche und Touristen“, meint Inadome im Vorbeigehen. Düsseldorf ist mit seinen weitläufigen Promenaden, Grünflächen und gerade einmal 600.000 Einwohnern zwar kein Vergleich zu Tokio, der größten Metropolregion der Welt mit 38 Millionen Menschen. Doch das DeutschJapanische Center, ein 70er-Jahre-Hochhaus mit zahlreichen Büros japanischer Firmen, verschiedenen japanischen Restaurants, Friseuren, Lebensmittelgeschäften und einem fernöstlichen Mobilfunkanbieter, ist der Ausdruck des bedeutendsten japanischen Zentrums in Europa nach London und Paris.

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wir haben eine ähnliche Mentalität, wir wissen fleiss, orDentlichkeit unD pünktlichkeit zu schätzen.

Yasuo Inadome

Kommerz und Kultur: Die Immermannstraße (oben) ist Mittelpunkt japanischen Lebens in Düsseldorfs, der japanische Garten im Stadtteil Oberkassel dient als Rückzugsort.

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Im Nikko-Hotel steigen vorwiegend japanische Geschäftsleute ab. Dort zieht es Inadome in den Laden mit deutschen Luxusartikeln. „Japaner bringen am liebsten edle Geschenke mit nach Hause – zum Beispiel Heinemann-Pralinen und FeilerHandtücher, damit macht man nie etwas verkehrt“, sagt Inadome, der selbst einmal im Jahr geschäftlich nach Japan reist.

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Schriftzeichen prangen auf einer großen Tafel die beliebtesten deutschen Reiseziele: Schloss Neuschwanstein, Rothenburg ob der Tauber, Münchner Hofbräuhaus. „Die Touren mit Reiseführer werden speziell für die japanische Gemeinschaft hier in Düsseldorf angeboten“, erklärt er. „Ich reise auch am liebsten durch Deutschland, aber ohne Fremdenführer.“

wirtschaftsfaktor Japan In der Region Düsseldorf sind rund 580 japanische Firmen tätig, davon rund 360 in der Landeshauptstadt selbst. In Nordrhein-Westfalen beschäftigen japanische Unternehmen mehr als 35.000 Menschen, die Tochtergesellschaften setzen jährlich 35 Milliarden Euro um. Das „Land der aufgehenden Sonne“ ist längst zu einem Wirtschaftsfaktor in der Metropolregion geworden. Seit vergangenem Jahr gibt es sogar Direktflüge von Düsseldorf nach Tokio. Vier japanische Kindergärten und eine japanische Internationale Schule, die schon 1971 gegründet wurde, machen Düsseldorf zum bevorzugten Wohnort für Mitarbeiter mit Kindern.

Das leben in Japan verläuft oftMals viel hektischer unD bietet wenige MÖglichkeiten, zeit Mit Der faMilie zu verbringen – Das ist in DeutschlanD anDers.

Yasuo Inadome

Inadome hält am Schaufenster des Reisebüros „Fuji Rhein“ inne. In japanischen

MehrWerte

ein teMpel aM rhein In Düsseldorf haben sich außerdem zahlreiche japanische Künstler niedergelassen. Japanische Musiker interpretieren klassische europäische Musik vorzugsweise im prächtigen RobertSchumann-Saal des Museums Kunstpalast. Für japantypische Kultur müssen Besucher indes auf die linke Rheinseite in den Stadtteil Niederkassel fahren, empfiehlt Inadome: Im japanischen Kulturzentrum EKO-Haus liegt ein buddhistischer Tempel inmitten japanischer Gärten. Geschwungene Dächer, klassische Schiebetüren, ein Glockenturm – alle Details muten fernöstlich an. Die Anlage, 1992 eröffnet, ist das erste und einzige in Europa von Japanern erbaute buddhistische Heiligtum. Wer statt Altbier-Verkostung in der Düsseldorfer Altstadt lieber einer asiatischen Teezeremonie beiwohnen möchte, hat dort die Gelegenheit. Allerdings: Gläubige Japaner trifft man dort nur wenige. „Viele meiner Landsleute sind religionslos und sehr tolerant“, beobachtet Inadome. Religiöse Traditionen nutzen sie je nach Lebensereignis, zum Beispiel für Hochzeiten oder Taufen. Ein Modell, das auch viele Deutsche so umsetzen. Text: Petra Schäfer

Buddhistische Heiligtümer: fester Bestandteil des japanischen Alltags am Rhein.

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Sushi statt Sauerbraten: Yasuo Inadome kehrt mit Geschäftspartnern gerne im Sushi-Restaurant ein. Privat bevorzugt er deutsche Küche.

Japan-tipps für DüsselDorf-besucher: EssEn gEhEn Kikaku, Klosterstraße 38 – ältestes und renommiertestes Sushi-Lokal in Düsseldorf Nagaya, Klosterstraße 42 – japanisches Sterne-Restaurant für Feinschmecker EinkaufEn Dae-Yang Asiatische Lebensmittel, Immermannstraße 21 – breites Sortiment von japanischen Limonaden bis hin zu frischen Kräutern der japanischen Küche kultur ErlEbEn EKO-Haus der Japanischen Kultur e. V., Brüggener Weg 6 – buddhistischer Tempel, japanischer Garten, Teeraum, Seminarräume DoKomi, Anime-, Manga- und Japan-Convention – einmal jährlich im Mai stattfindende Kulturtagung in der Messe Düsseldorf

Gegenwart

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Zahlen, Bitte!

Zahlen, bitte!

Seit 450 Millionen Jahren existieren Pilze auf der Erde. Sie besiedelten damals zusammen mit Urpflanzen wie Farnen die Landmasse. › Austernseitlinge

pilze Er gilt eigentlich weder als Tier noch als Pflanze, er ist das größte Lebewesen der Welt und er kann tödlich sein: der Pilz. Pilze gehören zu den ältesten und häufigsten Lebewesen auf der Erde. Dennoch sind sie bis heute kaum erforscht.

3 bekannte „Lebensreiche“ hat man bis ins 20. Jahrhundert in der Biologie unterschieden: Tiere, Pflanzen und Pilze, lateinisch Fauna, Flora und Fungi. Im 19. Jahrhundert galten Pilze dagegen noch als Pflanzen. Doch das sind sie nicht, denn Pilze beherrschen keine Fotosynthese. › Spitzmorcheln 14.400 Pilzarten wachsen laut Bundesamt für Naturschutz in Deutschland, 10.300 Pflanzenarten und rund 48.000 Tierarten. Doch nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen beträgt das Verhältnis von Pflanzen zu Pilzen eins zu sechs. Konkret heißt das: Wenn in Deutschland 10.300 Pflanzenarten wachsen, müssten schätzungsweise rund 60.000 verschiedene Pilzarten vorhanden sein. › Krause Glucke 80 bis 90 Prozent aller Pflanzen, so nimmt man an, werden in ihrem Wachstum durch Pilze gefördert. Das ist auch der Grund, warum bestimmte Pilzarten gerne in der Nähe bestimmter Baumarten wachsen. › Schwefelporling

Mehr als 300 Pilzvergiftungen meldete die Giftnotrufzentrale für das erste Dreivierteljahr 2014 und damit doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum. › Spitzmorcheln www.bethmannbank.de

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100 Prozent unzuverlässig als Bestimmungsmerkmale sind Farbe und Größe eines Pilzes, denn beides hängt stark von Boden und Witterung des Pilzstandorts ab. Wer Pilze sicher für den eigenen Verzehr sammeln möchte, sollte sich die gesammelten Exemplare entweder von einem Pilzsachverständigen freigeben lassen oder wenigstens einen Anfängerkurs besuchen. › Pfifferlinge

Etwa 150 Pilzarten gelten in Deutschland als giftig, davon sind allerdings nur wenige tödlich. Zu Letzteren zählen der bekannte Grüne Knollenblätterpilz und der weniger bekannte Orangefuchsige Raukopf sowie der Spitzgebuckelte Raukopf. Rauköpfe verursachen das sogenannte Orellanus-Syndrom. Die LD50, also die letale Dosis, bei der 50 Prozent der Probanden sterben, liegt bei nur 50 bis 100 Gramm frischen Pilzen. › Eichhase 2 Pilzarten gelten roh verzehrt als unbedenklich. Dabei handelt es sich um Champignons und Steinpilze. Für alle anderen Arten gilt: nie roh verzehren. Arten wie Morcheln oder Krause Glucke, auch Fette Henne genannt, sind roh sogar giftig für Magen und Darm. › Lilastieliger Rötelritterling 409 Pilzsachverständige hat die Deutsche Gesellschaft für Mykologie (DGfM) in ihrer Liste verzeichnet. Diese Pilzexperten verteilen sich über die gesamte Bundesrepublik, haben sich über Jahre fortgebildet, eine Prüfung abgelegt und dürfen offiziell Pilze zum Verzehr freigeben. › Flaschenstäublinge

1 Kilogramm pro Person und Tag gelten aus Naturschutzsicht als akzeptable Sammelmenge. Wer mehr sammelt und beispielsweise in Südbaden vom deutschen Zoll erwischt wird, bezahlt 100 Euro je zu viel gesammeltem Kilo. Die Pilze werden konfisziert und einem sozialen Zweck gespendet. › Shitake

9 Quadratkilometer misst das größte Lebewesen der Erde. Der sogenannte Riesen-Hallimasch wurde im Jahr 2000 entdeckt und wächst seit 2.400 Jahren in der Erde des Malheur National Forest in Oregon, USA. › Leberreischling 

Text: Geraldine Friedrich

Gegenwart

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Kleine Schätze des Alltags

kleine schätze Des alltags

Der Alltag ist voll von kleinen Gegenständen: Taschentücher, Messer, Streichhölzer, Kaffeemaschinen oder Kugelschreiber – sie alle gelten heute als so selbstverständliche Accessoires des täglichen Lebens, dass sie kaum noch eines Gedankens oder eines zweiten Blicks würdig erscheinen. Dabei sind sie oft unentbehrlich und besitzen eine lange Geschichte. Grund genug, die „kleinen Schätze des Alltags“ einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

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„hatschi!“ kulturgesChiChte unD bakterien: Das tasChentuCh

Nicht nur beim Naseputzen kommt das Taschentuch zum Einsatz. Man muss mit ihm auch winken können, den Schweiß abwischen, es dekorativ in die Jackentasche stecken, Tränen trocknen, Lippenstift entfernen, es unbemerkt fallen lassen und in Notfällen vor Mund und Nase halten können. Der Weg, den das Taschentuch zur Nase nimmt, ist zunächst ziemlich lang. Am Anfang seiner Karriere diente das kleine textile Quadrat als Sonnenschutz. Französische Fashionistas nannten es im 16. Jahrhundert „couvrechef“, Kopfbedeckung, woraus die Engländer „kerchief“ machten. Und da man das Tuch, wenn man es nicht benutzte, in der Hand trug, gab man ihm den Namen „handkerchief“. Dieses modische Accessoire feiner Damen war aus besticktem Leinen, aus Spitze oder Seide. Oft wurden Silber- oder Goldfäden eingewebt. Kein Wunder, dass frühe Testamente Taschentücher häufig als Wertsachen aufführten. Im täglichen Leben dienten die Tüchlein (ähnlich dem Fächer) der kultivierten Annäherung von Mann und Frau. Taschentücher ließ man kokett zu Boden fallen, man fand sie klopfenden Herzens und sammelte sie als Trophäe einer Liebe. Was waren das für Zeiten, als verfeinerte Lebensart noch der Verführung des anderen Geschlechts galt und nicht dem profanen Naseputzen! Dafür war der Mensch im 16. Jahrhundert noch nicht auf dem Höhepunkt der Zivilisation: Man schnäuzte kräftig auf den Boden und wischte sich danach die Nase am Jacken- oder Hemdärmel ab,

weshalb Erasmus von Rotterdam im Jahr 1530 notierte: „Die Nase am Ärmel abzuwischen, ist Bauernart. Richtig ist es, ein Taschentuch dafür zu nehmen.“ Gut 200 Jahre später konnte das auch tödlich sein: „Was, er schnäuzt sich nicht durch die Finger?“, schreit ein französischer Revolutionär in Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ und schließt: „Er hat ein Taschentuch – er muss ein Aristokrat sein. Hängt ihn auf!“ stoff für hygiene unD MoDe Dennoch muss der Gebrauch eines Taschentuchs nicht zum Tod führen. Im Gegenteil! Als im 19. Jahrhundert entdeckt wurde, dass Keime durch die Luft übertragen und Krankheiten sowie Seuchen durch Tröpfcheninfektionen ausgelöst werden, führte dies zur Verbreitung des Nasenputzens mittels Taschentuch. Dass heute nur noch wenige Männer ein Tuch aus feinstem Leinen mit handgerollten Kanten aus ihrer Hosentasche zu ziehen vermögen, mag man beklagen. Immerhin lugt das textile Tuch als Pochette – gefaltet oder blumig quellend – aus der Brusttasche manch eleganten, doch etwas zum Dandyismus neigenden Mannes heraus. Zum Schnäuzen dient es dort natürlich nicht. Die Zeiten sind schneller geworden. Für Mann und Frau. Tempo also! von Männernasen spät entDeckt Das Papiertaschentuch ist ein Kriegsgewinnler. 1914 wurde als Filter für die Gasmasken von

US-Soldaten im Ersten Weltkrieg Cellucotton, ein neuer, baumwollähnlicher, wattiger Stoff in so großen Mengen hergestellt, dass die Kaufhäuser nach dem Krieg davon riesige Restbestände übrig hatten. Diese bot man nun Frauen unter der Markenbezeichnung „Kleenex Kerchiefs“ zur Reinigung von Schminke, Puder und Lippenstift an. Kleenex-Tücher boomten und bald klagten die Damen, ihre Männer würden sich mit diesen Schönheitspflegetüchern die Nase putzen. Sofort pries der Hersteller Kimberley-Clark seine Kleenex-Tücher auch als Taschentücher an. Und so wurden sie 1924 in den USA zum Inbegriff der Papiertaschentücher. Nur fünf Jahre später brachten die Vereinigten Papierwerke Nürnberg erstmals in Deutschland ein saugfähiges, weiches, reißfestes Papiertaschentuch auf den Markt. Sein Name: Tempo! Jetzt hatte das Textiltaschentuch als Brutstätte für Bakterien ausgedient. Das Tempo-Taschentuch setzte sich sofort als ein großer Fortschritt auf dem Gebiet banaler, doch hygienesicherer Lebensgewohnheiten durch. Einmal benutzt und schon weggeworfen, verhindert es Re-Infektionen. Tempo-Taschentücher sind aus reinem Zellstoff, sauerstoffgebleicht und nach der Entsorgung umweltfreundlich abbaubar. Hierzulande ist Tempo Synonym für das Papiertaschentuch an sich. Sein Hersteller preist es nach eingehender Produktverbesserung als „durchschnupfsicher“. Na dann: Hatschi ... Gesundheit! Text: Pascal Morché

Zukunft

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Zwischen kommerziell und karitativ

Sicher dank Sport: Der Safe-Hub-Fußballplatz in Khayelitsha bei Nacht – ein sicherer Zufluchtsort für Kinder und Jugendliche im sozialen Brennpunkt.

zwischen koMMerziell unD karitativ

Mit Der kraft Des fussballs aManDla eDuFootball Die junge Hilfsorganisation AMANDLA EduFootball bietet Kindern und Jugendlichen in sozialen Brennpunkten Südafrikas Lebensperspektiven. Das Konzept könnte bald weltweit soziale Gerechtigkeit fördern – und zwar über den Sport.

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„aManDla“ koMMt aus Den sprachen xhosa unD zulu, beDeutet „stärke“ unD wurDe als freiheitsruf Der anti-apartheiDbewegung bekannt.

Wie eine saubere, strahlende zweite Welt liegt der Fußballplatz inmitten eines Meeres graubrauner, ärmlicher Hütten. Ein hoher Zaun trennt Wellblech von makellosem Kunstrasen, Flutlicht von spärlichen Lampen. Der Anblick des „Safe-Hubs“ könnte nicht extremer und gleichzeitig nicht hoffnungsvoller sein. Denn der Zaun soll nicht ausgrenzen, er soll die, die am meisten leiden, fördern und schützen: Kinder und Jugendliche in der Township Kayelitsha am Rande von Kapstadt. Auf dem Gelände des gemeinnützigen Vereins AMANDLA EduFootball können sie für ein paar Stunden am Tag Zuflucht finden vor ihrem harten Alltag – und letztlich ihre eigene Lebensperspektive nachhaltig verbessern. sport statt gewalt Kayelitsha ist eine der größten Townships in Südafrika: Mehr als 400.000 Einwohner leben in meist ärmlichen Verhältnissen, in der Kriminalitätsstatistik für das Western Cape rangiert die Township unter den gefährlichsten Orten. Kinder lernen dort in der Regel zuzuschlagen, nicht zuzuhören. Mit dem Fußballplatz, den die amerikanische CTC Ten Stiftung 2008 auf

Vermittlung von AMANDLA-Gründer Florian Zech (28) auf dem verwahrlosten Gelände einer Schule in Kayelitsha errichtete, entstand schnell die Keimzelle der Hilfsorganisation. Zech und sein Freund Jakob Schlichtig (29) entwickelten das sogenannte „Safe-HubModell“: Auf dem umzäunten Platz mit angrenzendem Seminargebäude und zentraler Zugangskontrolle erleben die Kinder aus dem sozialen Brennpunkt emotionale und physische Sicherheit. Sie werden von geschulten Mitarbeitern – meistens junge Erwachsene aus der unmittelbaren Nachbarschaft – betreut, können an Fußball-Bildungsprogrammen teilnehmen und sich weiterbilden. Die „Youth Leaders“ sind dabei in der Regel selbst ehemalige Bandenmitglieder, die von AMANDLA aufgeklärt und gefördert worden sind. Die Wirkung ist verblüffend: Mithilfe von Partner-Universitäten kann die Organisation anhand offizieller Daten nachweisen, dass Gewalt und Kriminalität im Einzugsgebiet des Safe-Hubs messbar zurückgehen und dass sich die Schulleistungen der teilnehmenden Mädchen und Jungen signifikant verbessern.

voM proJekt zur bewegung So entsteht aus dem ersten Projekt allmählich eine Bewegung: Zwar ist Südafrika als Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2010 mit enthusiastischen Fußballfans und beeindruckenden Stadien gesegnet, aber für die Jugendarbeit fehlen vor allem in der mehrheitlich schwarzen, armen Bevölkerung die Mittel und Konzepte. Seit 2014 trägt die südafrikanische Regierung deshalb einen Großteil der laufenden Kosten des Safe-Hubs in Kayelitsha. Mit Beteiligung der Oliver Kahn Stiftung und weiteren Partnern ist gerade ein zweiter SafeHub-Fußballplatz zwischen den verfeindeten Townships Gugulethu und Manenberg bei Kapstadt entstanden. Der Ex-Nationaltorhüter engagiert sich auch für weitere Projekte in Johannesburg und erstmals in Berlin. Bis 2020 wollen die Partner zehn Safe-Hubs weltweit realisieren. Sie glauben daran, dass die Kraft des Fußballs überall auf der Welt junge Menschen stärken und mit ganzheitlicher Bildung ihr Leben verändern kann.

Zukunft

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Zwischen kommerziell und karitativ

gutes tun – aber Mit kühleM kopf intervieW Mit Jakob sChliChtig, gesChäFtsFührer von aManDla eDuFootball e.v.

Er ist der Start-up-Unternehmer unter den Helfern: Jakob Schlichtig (29), Co-Gründer und Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins AMANDLA EduFootball, hat in kurzer Zeit gemeinsam mit Florian Zech ein erfolgreiches deutsch-südafrikanisches Entwicklungsprojekt auf die Beine gestellt. Dabei ist er vorgegangen wie bei der Gründung eines normalen Unternehmens. Zu seiner Arbeitsweise passt auch das Gespräch, das CHARACTER mit ihm geführt hat: zeitgemäß und effizient per Internetdienst Skype.

für dringend notwendig. Vielleicht fühle ich mich auch deshalb nicht allzu wohl im oftmals sehr emotional getriebenen Sozialunternehmerumfeld.

Herr Schlichtig, warum haben Sie sich dazu entschlossen, Ihr Wissen als studierter Betriebswirt ausgerechnet in den Aufbau einer gemeinnützigen Organisation zu investieren? Als ich meinen langjährigen Freund Florian 2009 in Kapstadt besucht habe und miterleben konnte, wie er mit einer selbst aufgebauten Fußballliga und eigens entwickelten Bildungsprogrammen für die Betreuungseinrichtungen und Waisenhäuser in den Townships die Kinder begeisterte, da hat es mich gepackt. Viele Kinder haben gar kein richtiges Zuhause, sie kommen aus zerrütteten Familien. Wir – beide aus behüteten Verhältnissen im Chiemgau – haben das Feuer gespürt, Dinge zu bewegen. Ich musste nicht lange überlegen, was ich mit meinem Bachelor in BWL anfangen soll. Passen die Wirtschaftsdenke und die Gemeinnützigkeit zusammen? Wer Gutes tun will, sollte das mit kühlem Kopf angehen – so wie man es bei der Gründung eines normalen Unternehmens auch macht. Unser Ansatz ist wirtschaftlich fundiert mit dem Zweck, sozialen Wandel voranzutreiben. Ich halte die Professionalisierung unserer sozialen Sparte in Deutschland

Wie haben Sie das konkret gemacht – ohne großes Netzwerk im Non-ProfitSektor den Verein AMANDLA in Deutschland und Südafrika zu gründen? Florian hatte über seine Arbeit in einem Waisenkinderheim in Kayelitsha einen ausgebildeten Streetworker kennengelernt, der unsere Idee sofort unterstützte und die sozialpädagogischen Konzepte mit uns und den jungen Menschen vor Ort ausgearbeitet hat. Schließlich waren wir inhaltlich-pädagogisch komplette Anfänger! Außerdem hat uns ein Anwalt geholfen, eine Non-ProfitOrganisation nach südafrikanischem Recht aufzusetzen. Als wir 2010 starteten, haben wir die ersten Spenden in den Aufbau unserer Website und in gute Fotos investiert, also in den Auftritt des Projekts nach außen. Nur so konnten wir die Akquise weiterer Spenden vernünftig betreiben. Parallel haben wir von Anfang an in ein schlagkräftiges Team und die stetige Weiterentwicklung der Bildungsprogramme investiert, um gemeinsam unsere Vision verwirklichen zu können. Und Sie hatten das Glück, im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika zu starten. Wie haben Sie diesen Aufmerksamkeitsschub für sich genutzt? Die ersten Unternehmen sind im Vorfeld der WM auf uns aufmerksam geworden. Außerdem habe ich eine Tournee durch

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deutsche Rotary Clubs gemacht und unsere Idee präsentiert – das war sehr lehrreich für mich, denn viele gestandene Geschäftsleute haben unser Projekt sehr kritisch hinterfragt. Viele der ersten Spenden kamen über unsere persönlichen Kontakte von Privatpersonen, die bis heute mit viel Engagement AMANDLA unterstützen. Den entscheidenden Durchbruch für AMANDLA haben Sie aber anders erreicht. Zum Beispiel mit der Beteiligung der Oliver Kahn Stiftung. Oliver Kahn hat uns 2013 das erste Mal in Südafrika besucht, um sich persönlich einen Eindruck von den gemeinsamen Projekten zu verschaffen und den direkten Kontakt zu den Kindern und Coaches aufzubauen. Auf Basis der erfolgreichen Zusammenarbeit in Kapstadt und Johannesburg planen wir nun ein gemeinsames Projekt in Berlin. Uns war von Anfang an klar, dass wir die Expertise um uns herum zu verschiedenen Themen vernetzen müssen, um mit unserer Idee erfolgreich zu sein. Worauf stützen Sie Ihre Arbeit und Ihre Erkenntnisse? Wir haben früh mit der University of Cape Town und der University of the Western Cape zusammengearbeitet – beide haben großes wissenschaftliches Interesse an sozialen Bewegungen und sogenannten „Grassroots“Organisationen, die direkt an der Basis arbeiten. Die University of Cape Town beteiligt sich auch aktuell noch an der Forschung und Entwicklung unseres Modells: Wir wollen dem enormen Maß an sozialen Konflikten auf der

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Fußball und Bildung: AMANDLA vermittelt den Kindern Fair Play und damit spielerisch ein positives Wertesystem.

Welt entgegentreten, weil wir davon ausgehen, dass soziale Grundkonflikte wie Jugendarbeitslosigkeit und -gewalt weltweit ähnlich strukturiert und unsere Lösungen universal anwendbar sind. Hätten nicht andere Hilfsorganisationen etwas dagegen, wenn sie auf ihren Gebieten durch AMANDLA Konkurrenz bekommen? Ich bin für Wettbewerb, denn er spornt an, sich zu verbessern. Abgesehen davon sehe ich in der Vernetzung der Stärken einzelner Organisationen die einzige Chance, wirklich global und nachhaltig etwas zu bewegen. In Südafrika arbeiten wir zum Beispiel gerade mit einer Unternehmensberatung an einem Social-Franchising-Konzept für unser soziales Modell. Denn der südafrikanische Fußballverband möchte Talentförderung in Verbindung mit unseren Bildungs- und Sozial-

wer gutes tun will, sollte Das Mit kühleM kopf angehen – so wie Man es bei Der grünDung eines unternehMens Macht.

programmen in Safe-Hubs, also geschützten Fußballplätzen mit Bildungseinrichtung, landesweit in 300 Bezirken einführen. Diese strategische Allianz von einer NGO [Anm. d. Red.: non-governmental organization – Nichtregierungsorganisation] mit einem nationalen Fußballverband ist für uns ein großer Schritt und weltweit einzigartig. Text: Petra Schäfer

Unterstützung für AMANDLA EduFootball in Form einer Spende ist möglich unter: AMANDLA EduFootball e. V. IBAN DE05 5012 0383 0002 5059 72 BIC DELBDE33 Bethmann Bank AG

Gegenwart

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Hello / Goodbye

hello / gooDbye

guckst Du noch oDer streaMst Du schon? von Dia-abenDen unD streaMingDiensten Nur noch schauen, was man will und wann man es will – das ist die schöne neue Medienwelt. Streamingdienste wie Netflix machen es möglich. Allerdings gibt der Zuschauer damit sein Nutzungsverhalten über das Internet preis und erhält individuell zugeschnittene Werbung. Die Zuschauer von Dia-Abenden dagegen waren früher an feste Termine gebunden und mussten die oft langweilige Bilderschau tapfer über sich ergehen lassen – schneller Vorlauf oder Stopp-Taste ausgeschlossen.

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- HELLO -

INDIVIDUELLE WERBETRAILER Wer heutzutage Filme oder Serien auf dem heimischen Sofa schauen will, tut das immer seltener via klassischer Fernsehausstrahlung, DVD oder Blu-ray – sondern per Streaming. Als der Weltmarktführer Netflix (seit 2014 auch in Deutschland verfügbar) die zweite Staffel seiner erfolgreichen Polit-Serie „House of Cards“ bewarb, tat die Firma das, wie im Fernsehen üblich, mit kurzen Vorschautrailern. Der Unterschied: Netflix hatte zehn verschiedene Versionen dieser Trailer angefertigt – und je nach seinen Sehgewohnheiten bekam der Zuschauer eine andere Version gezeigt. Wer zuvor auf Netflix Filme mit Hauptdarsteller Kevin Spacey angesehen hatte, sah einen Trailer, in dem dieser besonders oft vorkam. Bei einem Faible für starke Frauenrollen wurde die Version gezeigt, in der die weibliche Hauptfigur eine prominentere Rolle spielte. Und Fans des

Genres „politisches Drama“ bekamen einen Trailer zu sehen, der die Intrigen und Machtkämpfe ums Weiße Haus in den Mittelpunkt rückte. All das ist möglich, weil der Streaminganbieter auf Big Data setzt: Netflix ist nicht auf unpräzise Einschaltquoten angewiesen, die basierend auf einer Reihe Testhaushalte auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden. Stattdessen weiß die Firma von jedem einzelnen Zuschauer genau, was er wann gesehen hat, an welcher Stelle er einen Film abgebrochen oder wie schnell er eine Serienstaffel verschlungen hat. Und folglich auch, was man ihm zeigen muss, um ihn bei der Stange zu halten. Denn nur wer regelmäßig streamt, kündigt nicht irgendwann sein Netflix-Abo – das erschließt sich auch ohne Big Data. Text: Christoph Koch

- GOODBYE -

DIA-ABEND Die Jacke war neongelb und trug den Schriftzug Elho. Die Marke kennt keiner unter 35, war in den 1980er-Jahren aber hip. Nun, genau diese Jacke war auf jedem zweiten Dia von insgesamt gefühlt 5.000 zu sehen. Christian war mit seinen Eltern nach Zermatt gefahren, zeigte Bilder von sich, wie er auf der Piste steht: auf, unter, daneben. Die Atmosphäre im Wohnzimmer glich den Unterrichtsstunden im Technikraum: dunkel, das leise Vibrieren des Projektors und das Klicken, sobald ein neues Dia gezeigt wird. Man hört nur das tiefe Ein- und Ausatmen des Sitznachbarn – und das Brechen der Salzstängel. Heute gibt es Beamer. Aber kein Mensch – außer den Volkshochschulen – lädt zu Beamer-Abenden ein. Warum eigentlich? Seit alle digital fotografieren, leidet die Menschheit an Überdosen von Bildern. Vor 20 Jahren musste der Fotograf noch von Hand rahmen, spätestens nach 200 Dias hörte der Spaß auf. Dem Bilderrausch war eine natürliche Grenze gesetzt. Das Reisen in ferne Länder samt einer guten Kamera war wenigen Gutverdienern vorbehalten. Mittlerweile verfügt

jeder Student über eine vernünftige Kamera. Fotos von Neuseeland oder Namibia sind nichts Besonderes mehr. 1.000 digitale Fotos von einer Woche Südafrika, die man an die Geschäftsreise angehängt hat? Kein Problem. Die exorbitante Zunahme von Reiseblogs und Netzwerken machen DiaAbende zudem überflüssig, Die Wahrheit ist auch: Nicht nur die Technik hat sich von analog auf digital verändert, sondern auch das Sozialverhalten. Für einen Dia-Abend müssen sich die Teilnehmer auf einen Termin einigen und mehrere Stunden Zeit erübrigen (bestenfalls machen sie das per Doodle!). Für das Anschauen von Fotos bleiben heute drei Minuten zwischen E-Mail-Check und Facebook-Kommentar: Dia-on-Demand. Für kollektives Langweilen hat dagegen niemand mehr Zeit oder Lust. Die Salzstängel vor dem Laptop knirpselt künftig jeder für sich. Eigentlich schade. Text: Geraldine Friedrich

Tradition

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Panorama

panoraMa

von wegen schlürfen. kauen! Die einzige DeutsChe austernzuCht Zu Gast bei Dittmeyer´s Austern-Compagnie in List auf Sylt, wo die edlen Schalentiere im Wattenmeer ungestört wachsen und zum Luxusprodukt „Sylter Royal“ reifen. Aber wie isst man sie eigentlich richtig?

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Daheim im Watt: Die Austernbänke von Dittmeyer´s AusternCompagnie in der Sylter Blidselbucht. Bine Pöhner wendet Säcke mit Austern, damit diese nicht festwachsen.

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Tradition

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Panorama

Austernstube: In der Lister Hafenstraße befindet sich das Büro der Austernzucht.

Sie sind in grobmaschige Säcke verpackt, die auf etwa 60 Zentimeter hohen Metalltischen im Wattboden festgezurrt sind. Dort, in der Blidselbucht südlich von List, können die Austern atmen und „stoffwechseln“ – gewissermaßen ein Luxusleben für die Schalentiere. Die benötigten Nährstoffe bringt die Nordsee bei Flut automatisch. Rund 20 Liter dieses Meerwassers filtert so eine Auster stündlich und gedeiht dabei prächtig. „Wir müssen sie alle paar Wochen mal kurz stören“, sagt einer der Männer in Gummistiefeln. Er gehört zu Dittmeyer’s Austern-Compagnie, der einzigen Austernzucht-Adresse in Deutschland. Dann nimmt er einen der rund 15 Kilogramm schweren Säcke in die Hand, schüttelt ihn und legt ihn wieder hin. „Sonst wachsen sie zusammen.“ Seetang und Algen, die das Atmen und die Nahrungsaufnahme behindern könnten, entfernt er bei der Gelegenheit auch gleich.

iDeale beDingungen

voM saft zur auster

Zwar hat Dittmeyer’s Austern-Compagnie rund 30 Hektar Watt vom Land SchleswigHolstein gepachtet, aber bei Ebbe darf sich ein Ranger mit Gästen des Erlebniszentrums Naturgewalten Sylt in List nähern. „Austern auf Sylt“ heißt der dreistündige Ausflug, den heute Ranger Mike Kuschereitz leitet. Gummistiefel oder wasserfeste Sandalen sind Pflicht. „Die Muschelschalen sind zu scharfkantig“, warnt der Ranger.

Eigentlich war die Auster längst ausgestorben auf Sylt. Erst in den 1980er-Jahren konnte sie wieder angesiedelt werden. Als dann die Inselverwaltung 1986 einen Investor für die Austernzucht suchte und die örtlichen Fischer abwinkten, griff die Firma Dittmeyer zu. Doch die war bis dahin eher bekannt für ihre Orangensaftmarke. Also gründete das Unternehmen „Dittmeyer’s AusternCompagnie“ in List und versah das neue Luxusprodukt mit dem klangvollen Namen „Sylter Royal“.

Die Austern dagegen sind an diesem Ort bestens aufgehoben. „Das ist einer der wenigen Orte in Europa mit Güteklasse A, so sauber ist die Nordsee hier“, sagt Kuschereitz. „Trinkwasserqualität mit vielen Mineralien lässt die Auster gut wachsen.“ Außer in List, dem nördlichsten Dorf Deutschlands, gibt es nur noch zwei Orte in Europa mit vergleichbarer Wasserqualität, wo Austern gut gedeihen: einer in Irland, einer in Schottland.

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„Der Name gefällt mir super“, freut sich Bine Pöhner, seit 2007 Chefin der Austernfarm auf Sylt. Die Diplom-Kauffrau aus Hamburg hatte schon während ihres Studiums zweimal in List in dem Austernbüro gejobbt, das zu dem Unternehmen gehört.

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Austernproduktion: In der Produktionshalle wachsen die Austern in der kalten Jahreszeit. Verpackt werden sie in Körbchen à 25 Stück.

Das ist einer Der wenigen orte in europa Mit güteklasse a, so sauber ist Die norDsee hier.

Mike Kuschereitz, Ranger

Tradition

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Stechschutz: Die Austern werden mit dem Austernmesser und speziellen Handschuhen als Schutz geöffnet.

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Panorama

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Austernfischer: Das alte Logo von Dittmeyer´s Austern-Compagnie.

Tradition

Panorama

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Richtige Kleidung: Zur Austernbank geht es mit Watthose, Jacke und Gummihandschuhen.

Die auster auf sylt „Die Europäische Auster ist Anfang des 20. Jahrhunderts

Sylt wiesen jüngst nach: Die Miesmuscheln siedeln sich

auf Sylt ausgestorben – wegen Überfischung und zweier

sogar unter den viel größeren Austern an und schützen

Parasiten, die sie an Wachstum und Fortpflanzung

sich somit besser vor Fressfeinden. Seesterne wiederum

hinderten“, erläutert Ranger Mike Kuschereitz auf seiner

haben bald gelernt, junge Pazifische Austern zu knacken.

Führung durch das Watt. Doch wie kam die Auster wieder

Also haben sich offenbar alle, nicht nur der Mensch, mit

nach Sylt? Die Bundesforschungsanstalt für Fischerei

dem Exoten auf Sylt arrangiert.

züchtete dort von 1974 bis 1984 Austern, weil es ein Standort mit optimalen Bedingungen war und den Tieren

Ranger Mike spricht bei der Gelegenheit auch gleich eine

in Deutschland wieder eine Chance gegeben werden sollte.

besondere Eigenschaft an, die Austern immer wieder nach-

Allerdings testeten die Biologen zu diesem Zweck gleich

gesagt wird: „Manche essen sie wegen der Libido. Doch

die Pazifische Felsenauster, die robuster und größer ist.

bewiesen ist die Wirkung nicht.“ Sicher ist nur:

Naturschützer waren zunächst skeptisch, so einen Exoten

Die Auster hat kaum Fett und Kohlehydrate, aber ist prall

in die Nordsee zu lassen. Sie sahen die Miesmuschel

gefüllt mit Mineralstoffen und Vitaminen aller Art.

bedroht. Doch Biologen des Alfred-Wegener-Instituts auf

info / kontakt Bistro und Verkauf · Dittmeyer’s Austern-Compagnie Hafenstraße 10–12 · 25992 List auf Sylt · Tel. 04651 87 08 60 · www.sylter-royal.de Führungen „Austern auf Sylt“ mit dem Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt Hafenstraße 37 · 25992 List auf Sylt · Tel. 04651 83 61 90 · www.naturgewalten-sylt.de

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Heute werden in und vor dem roten Backsteinhaus mit dem blauen Holzgiebel Austern in allen möglichen Varianten serviert und auch außer Haus verkauft.

„Es schmeckt erst salzig, danach gemüsig oder nussig, vielleicht sogar etwas süß“, sagt die Fachfrau. Wer die Auster dagegen gleich wegschlürft, übergeht diesen genüsslichen Part ganz. Viele ließen dieses besondere Geschmacksgefühl einfach aus, wundert sich die Geschäftsführerin. „Sie schmecken dann nur Salz, Pfeffer oder Zitrone, je nachdem, was sie in die offenen Schalenhälften getan haben.“

Pöhner brachte das Kunststück fertig, nicht nur ganz Sylt mit dem begehrten Lebensmittel zu versorgen, sondern auch die großen Kreuzfahrtschiffe zu bestücken. „Gerade hat die MS Europa II in Hamburg wieder eine große Lieferung bekommen“, liest sie aus ihren Bestelllisten vor. Von der „Aida“ bis zur „Sea Cloud“ werden alle beliefert, wenn sie in norddeutschen Häfen anlegen. Auch das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) in Berlin ist Großkunde. „Die haben immer sechs bis zehn Austernsorten zum Essen, und die Austernbar ist immer brechend voll“, betont die Herrin über eine Million Austern – das ist die Anzahl, die sie jährlich in den Handel gibt. reif nach vier Jahren Drei bis vier Jahre sind sie dann alt. Die kleinen Setzlinge von ca. 30 Gramm kommen mit etwa einem Jahr von der irischen Zucht. Dann reifen die harten Geschöpfe mit dem weichen Innenleben auf den Metalltischen im Sylter Watt noch zwei bis drei Jahre. Sie wiegen 70 bis 90 Gramm und sind wie lang? Bine Pöhner weiß das nicht auswendig, sondern hält ein Lineal an ein paar leere Schalen. „Zehn bis zwölf Zentimeter“, liest sie ab. Dann holt sie ihr Messer aus der Tasche. „Ich zeige Ihnen mal etwas“, sagt sie und schlüpft mit der anderen Hand in einen silbrig glänzenden Metallhandschuh. „Wir öffnen sie am Schloss.“ Pöhner setzt das Austernmesser dort an, wo die Schalenhälften verbunden sind. Das Messer wird zum Hebel, es knackt. Das weiche Austernfleisch ist im Wasser in der Schale zu sehen. „So, jetzt bloß nicht schlürfen“, mahnt Pöhner und zeigt, wie es der Kenner genießt: Das Wasser abgießen, das Fleisch mit Reethalm oder Gabel in den Mund nehmen, dann vier- bis fünfmal durchkauen.

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austern Mit schnupfen? Zurück zu Ranger Mike, der mit seiner Gruppe inzwischen auf dem Wattweg entlang der Blidselbucht Richtung Norden zum Lister Hafen unterwegs ist. „Da, Seekühe“, sagt er und zeigt in die Bucht. Und mit einem Lächeln erklärt er, was er mit den Seekühen meint: „So heißen die Betongerüste, die früher der Luftwaffe als Zielscheiben dienten. Das ist lange her.“ Ob sich die Austern im Winter auch erkälten können, will einer von Mikes Gästen wissen. „Draußen würden sie erfrieren oder durch Eisgang wegdriften“, erläutert der Ranger. Darum müssen die zwei bis drei Millionen Austern, die dort wachsen, dann zu Dittmeyer getragen werden. Bine Pöhner erklärt: „Wir halten sie in 16 großen Becken so lange, bis es draußen wieder mild genug ist, und geben ihnen frisches Meerwasser.“ Nachhaltig sei alles, was Dittmeyer auf Sylt produziert. „Hundert Prozent Natur, denn wir füttern sie nicht künstlich und geben auch keine Medikamente“, beschreibt sie die aufwendige Zucht. Auch beim Versand wird auf Naturprodukte gesetzt: Vorsichtig legen die Mitarbeiter die Austern mit der gewölbten Schalenhälfte nach unten auf das Reet, mit dem die Holzkisten ausgekleidet werden. probieren vor ort „Moin, Moin“, ruft Pöhner, denn es sind wieder neue Gäste in der Lister Probierstube eingetroffen. Im Bistro werden Austerngerichte angeboten, viele kaufen auch direkt dort oder über das Internet ein. Ein Span-

so, Jetzt bloss nicht schlürfen.

Bine Pöhner, Geschäftsführerin Dittmeyer's Austern-Compagnie

korb mit 50 „Sylter Royal“ ist schon für 70 Euro zu haben. Das Genießer-Set mit 25 Austern, Austernmesser und einer Flasche Prosecco kostet 54,50 Euro. Bei maximal zehn Grad hält so eine geschlossene Auster mehrere Tage, ohne an Geschmack zu verlieren. Doch wer kann schon so lange widerstehen? Text: Knut Diers

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Unternehmen der Zukunft

unternehMen Der zukunft

sauberMann Mit Öko-effekt MyCleaner: autoWäsChe ohne Wasser www.bethmannbank.de

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Vom Tellerwäscher zum Millionär – so geht die sprichwörtliche Karriere normalerweise. myCleaner dagegen setzt nicht auf die Teller-, sondern auf die Autowäsche. Und macht dabei einiges anders: Das junge Unternehmen bietet eine mobile und besonders umweltfreundliche Reinigung.

Vor der Haustür, auf dem Parkplatz, in der Tiefgarage oder im Parkhaus reinigen die mobilen Saubermänner von myCleaner ohne Wasser und Stromanschluss Autos von Hand. Der Schmutz wird per Öko-Spezialflüssigkeit gelöst und am Ende mit Mikrofasertüchern weggewischt.

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Unternehmen der Zukunft

moderne waschanlage mindestens 15 liter Frischwasser pro Fahrzeug

mycleaner 1/4 liter biologisch abbaubarer spezialreiniger pro Fahrzeug

Es ist 16 Uhr und der erste heiße Tag des Jahres. „Gut, dass Ihr Auto im Schatten steht“, sagt die junge Frau im ärmellosen T-Shirt mit dem mittlerweile doch leicht geröteten Kopf. Ihre Haut glänzt vor Schweiß. Das Thermometer zeigt immer noch knapp unter 30 Grad, da schützt Schatten nur bedingt. Seit einer Stunde putzt und saugt Juliane Pauer (Name von der Redaktion geändert) einen 1er-BMW, der schon länger nicht mehr gereinigt wurde. Im Holm der Fahrertür kleben alte Schlammspritzer. Der Kofferraum ist übersät mit Holz- und Rindenresten, die Front mit toten Insekten überzogen. Auf dem Dach prangt angetrockneter Vogelkot.

beiM greentec awarD, eineM Der beDeutenDsten uMwelt- unD wirtschaftspreise weltweit, ist Mycleaner 2014 unter Die top 3 gekoMMen.

„Kein Problem“, meint die 24-Jährige lächelnd. Ein Geländewagen neulich habe noch ganz anders ausgesehen. Am Gürtel ihrer halblangen Arbeitshose hängen Sprühflaschen.

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„Für Glas, zum Vorbehandeln und zum Abwischen“, erklärt Pauer die Inhalte. Die Schlammspritzer leisten keinen großen Widerstand. Bei Vogelkot und Insekten muss die Flüssigkeit erst einwirken. Dann ist aber auch dieser Schmutz mit wenigen Wischern des Mikrofasertuchs entfernt. ein viertelliter spezialflüssigkeit reicht Das alles geschieht direkt vor der Haustür des Eigentümers. Ohne Wasser oder Stromanschluss. Mobil per Anruf oder per Onlinebuchung. Pauer ist ein Cleaner, wie das im Firmenjargon des Stuttgarter Start-upUnternehmens myCleaner heißt.

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wir verkaufen zeit unD ein gutes Öko-gewissen.

Abdula Hamed

Firmenkunden bietet myCleaner auch eine Bagatellwartung wie z. B. das Nachfüllen von Flüssigkeiten oder den Wechsel von Scheibenwischern an.

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Die vier Gründer und Eigner von myCleaner haben es mit ihrer Firma beim GreenTech Award in der Kategorie Wasser & Abwasser unter die Top 3 geschafft. Von links: Mohamed Hamed, Abdula Hamed, Natalia Kister, Slawa Kister.

Sie putzt wie ihre bundesweit 15 Firmenkollegen mit einer biologisch abbaubaren Spezialflüssigkeit aus der Sprühflasche. Ein Viertelliter davon reicht für eine komplette Autoreinigung. Diese Art der Reinigung hinterlässt keine Wasserpfützen, und das ist entscheidend. Denn Autowaschen mit Wasser auf der Straße ist in Deutschland verboten, weil dadurch Schadstoffe ins Grundwasser gelangen könnten. Geboren wurde die Idee zu myCleaner sozusagen standesgemäß auf der Straße, erinnert sich Mitgründer Abdula Hamed. Das war vor etwa vier Jahren. „Ich habe an der FH Aachen Medizintechnik studiert und eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Stuttgart gesucht“, sagt der heute 28-Jährige mit jordanischen Wurzeln. Die bot ihm der Unternehmensberater Slawa Kister. Während der Fahrt haben sich beide dann über potenzielle Geschäftsideen unterhalten und sind dabei auf die mobile Autoreinigung gekommen. „wir verkaufen zeit unD ein gutes Öko-gewissen“ Glänzender Lack und saubere Polster allein sind es aber nicht, die das Jungunternehmen ausmachen. „Wir verkaufen Zeit und ein gutes Öko-Gewissen“, bringt der „Medizintechniker auf Abwegen“ die Firmenphilosophie auf den Punkt. Stundenlang stünden Autos jeden Tag ungenutzt herum. Genug Zeit, damit die Autowäsche in Person eines kompetenten „Saubermanns“ zum Auto kommt – und nicht wie üblich das Auto zur Waschstraße. Juliane Pauer hat auch ohne Wasser alles, was sie braucht. Aus ihrem schwarzen Firmenkombi holt sie einen Staubsauger und einen Kompressor, um diesen auch unter freiem Himmel ohne Steckdose betreiben zu können. Deshalb putzt myCleaner nicht an Sonn- und Feiertagen. An allen anderen Tagen jedoch ist der Service von 9 bis 17 Uhr verfügbar. Buchen kann man ihn rund um die Uhr im Internet. „Ich putze auch in der Tiefgarage, da ist man wetterunabhängig“, erklärt Pauer.

Mycleaner – Die Daten Der mobile Kfz-Putzdienst kann entweder online unter der Internetadresse myCleaner.com gebucht werden oder telefonisch unter einer Hotline-Nummer. Er ist in bundesweit 13 Regionen verfügbar und kostet Privatkunden zwischen 30 und 120 Euro, abhängig von der Fahrzeuggröße und ob nur außen oder auch der Innenraum geputzt werden soll. Zudem wird zwischen Basis- und Intensivreinigung unterschieden. Eine Fahrzeugreinigung dauert zwischen 35 Minuten (Basisreinigung außen) und zwei Stunden (Intensivreinigung außen und innen). Sie ist in der Regel noch am selben Tag kurzfristig buchbar. Unter minus 15 Grad Umgebungstemperatur wird nicht geputzt. Nach oben gibt es keine Temperaturgrenze. myCleaner betreibt auch einen Online-Shop, über den man die ökologisch abbaubare Spezialflüssigkeit kaufen und selbst putzen kann. Konkurrenten von myCleaner sind auf lokale Einzelanbieter wie 1a mobile Autoreinigung in Hamburg beschränkt. Das Stuttgarter Start-up-Unternehmen ist das einzige, das derzeit unter einer Marke einen bundesweiten Auftritt hat.

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Vor myCleaner gab es bereits Mittel, die ohne Wasser reinigen konnten. Die waren aber für die Putzkraft gesundheitlich bedenklich, sagt Hamed und grenzt sich damit von früheren Lösungen ab. Als Student sei er mit Nanotechnologie in Berührung gekommen und habe es geschafft, die heutige myCleanerSpezialflüssigkeit, die biologisch abbaubar ist, in Kooperation mit einem Unternehmen aus der Reinigungsmittelbranche zu entwickeln. Beim GreenTec Award, einem der bedeutendsten Umwelt- und Wirtschaftspreise weltweit, ist myCleaner 2014 unter die Top 3 gekommen. Das liegt auch daran, dass in Waschstraßen pro Reinigung mehrere Hundert Liter Wasser verbraucht werden. Selbst in den modernsten Anlagen mit Wasserrückgewinnung müssen pro Auto 15 Liter Frischwasser zugeführt werden. Die wasserlose Mobilwäsche von myCleaner ist in jedem Fall sparsamer.

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kam dann noch Computerexperte Dmitry Klimensky als fünfter Geschäftspartner dazu, der die Firmen-IT steuert. Die Idee kommt zunehmend an. Vier Fünftel der Privatkunden sind Menschen, die einen guten Job, aber wenig Zeit haben, erzählt Cleanerin Pauer. Auch wer sein Auto verkaufen will oder einen Leasingwagen hat und ihn zurückgibt, ordere häufig den mobilen

Nachdem das Geschäftsmodell feststand und die Firma 2011 gegründet war, mussten Kunden und Personal her. Das war – und ist – die Aufgabe von Wirtschaftsinformatiker Mohamed Hamed, dem 29-jährigen Bruder Abdulas. Der geht nach einer festen Strategie vor: Erst wird in einer Stadt ein gewerblicher Großkunde gesucht, etwa ein Autovermieter oder eine Firmenwagenflotte. Ist auf diese Weise eine Grundauslastung gesichert, wird die Dienstleistung auch Privatkunden angeboten. Die Vierte im Bunde der Firmengründer ist Kisters Ehefrau Natalia. Die 36-jährige Designerin ist im Unternehmen für den Werbeauftritt zuständig. Später

auch Köln dazukommen. myCleaner könnte schneller expandieren, wenn sich ein passender Geldgeber fände. Wachstum kostet. Firmenanteile würde man dafür aus der Hand geben, aber die Mehrheit auf alle Fälle behalten, sagt Hamed. Andernfalls nähmen die Gründer lieber eine langsamere Expansion in Kauf. An Nachfrage und weiterem Potenzial mangelt es jedenfalls nicht. JeDer zweite Deutsche putzt nicht selbst

wir haben auch stuDenten, Die ihr auto ein Jahr lang nicht pflegen unD es Dann einMal grünDlich reinigen lassen.

relativ teuer, aber unvergleichlich sauber Getestet wurden die Saubermänner bereits vom ADAC, der sie mit herkömmlichen Waschstraßen verglichen hat. Das Fazit der Tester: myCleaner ist gut doppelt so teuer. Das Fahrzeug wird aber teils deutlich sauberer, und der Halter kann während der Reinigung im Büro oder zu Hause bleiben und seine Zeit wichtigeren Dingen widmen. Dazu kommt der Öko-Effekt.

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Abdula Hamed

Putzdienst, um die Gefährte optisch auf Vordermann zu bringen. „Wir haben auch Studenten, die ihr Auto ein Jahr lang nicht pflegen und es dann einmal gründlich reinigen lassen“, ergänzt Hamed. Begonnen habe alles mit dem ersten Großkunden Quicar in Hannover, dem Carsharing-Unternehmen von VW. voM start weg gute uMsätze „Wir sind sofort mit guten Umsätzen gestartet“, betont Hamed. Für eine Start-up-Firma ist das wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Anfangs parallel zum Studium expandierte das Unternehmen dann in eine Stadt nach der anderen. Heute gibt es myCleaner an bundesweit 13 Standorten nebst umliegenden Regionen von Bremen bis München und von Stuttgart bis Leipzig. Dieses Jahr sollen Berlin, Hamburg und Düsseldorf, vielleicht

Fast 44 Millionen Pkw sind in Deutschland laut Kraftfahrtbundesamt zugelassen. Jeder zweite Deutsche putzt sein Auto nicht selbst, wissen Statistiker. Das beschert Waschstraßen jedes Jahr einen Milliardenumsatz. myCleaner will sich von diesem Kuchen ein zunehmend größeres Stück abschneiden und brachte es 2014 auf gut 10.000 Reinigungen, verrät Hamed. Der Umsatz hat sich dabei im Vergleich zu 2013 auf gut 600.000 Euro verdoppelt. Auch das Angebotsspektrum wächst. Mittlerweile säubert myCleaner nicht nur Autos, sondern auch Lastwagen, Wohnmobile und Motorräder. Firmenkunden werden Bagatellwartungen wie die Wischwasserkontrolle oder Kleinreparaturen wie das Auswechseln von Wischerblättern angeboten. „Außerdem experimentieren wir mit professionellen Autoaufbereitern als neuen Geschäftspartnern“, sagt Hamed. Dann könnten Autos nicht nur auf Hochglanz gebracht, sondern auch kleinere Kratzer aus dem Lack poliert werden. Der ursprünglich dreckstarrende 1er-BMW jedenfalls ist nach einer Stunde Intensivpflege sowohl innen wie außen blitzblank. Für Juliane Pauer scheint das selbstverständlich: „Wir bekommen vieles sauber, aber zaubern können natürlich auch wir nicht“, sagt sie. „Bei besonderem Schmutz muss ich es nur vorab wissen. Hundehaare oder überhaupt Tierhaare sind richtig lästig.“ Text: Thomas Magenheim

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sol gabetta

pablo casals, spanischer Cellist, Komponist, Dirigent, 1876 – 1973

sir yehuDi Menuhin, schweizerisch-britischer Geiger, Bratschist und Dirigent, 1916 – 1999

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Mstislaw rostropowitsch, russischer Cellist, Dirigent, Pianist, Komponist, Humanist, 1927 – 2007

leonarD bernstein, amerikanischer Dirigent, Komponist und Pianist, 1918 – 1990

Maurice ravel, französischer Komponist, 1875 – 1937

charlie chaplin, amerikanischer Komiker, Regisseur, Filmproduzent, 1889 – 1977, an seinem 70. Geburtstag am 16. April 1959

* von Sol Gabetta

John cage, amerikanischer Komponist und Künstler, 1912 – 1992

Johannes brahMs, deutscher Komponist, Pianist und Dirigent, 1833 – 1897

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Einplanen

einplanen

Durch Das Jahr Mit sol gabetta Ein Leben für die Musik – so lässt sich der Alltag von Sol Gabetta zusammenfassen. Rund 130 Auftritte absolviert die Cellistin pro Jahr und zählt damit zu den produktivsten Stars der Klassik. Bei einem so dicht getakteten Konzertkalender bleibt nur wenig Zeit für andere Aktivitäten. Immerhin gönnt sich die Ausnahme-Cellistin kurze Pausen über die Weihnachtstage und im Sommer. Hier Auszüge aus ihrem Termintagebuch.

septeMber 2015 DresDner philharMonie Die Dresdner Philharmoniker und ihr spannender Dirigent Michael Sanderling haben mich als „artist in residence“ eingeladen. Wir spielen Cellokonzerte von Elgar, Martinu und Saint-Saëns sowie Kammermusik von Chopin. Anschließend gehen wir auf Tournee nach Großbritannien. 5. / 6. septeMber, Albertinum philharMonie essen Mit dem Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam unter Daniele Gatti trete ich in der Philharmonie Essen auf. Es gilt als das wohl berühmteste Sinfonieorchester der Welt neben den Berliner Philharmonikern. Eine umso größere Ehre ist es, dass ich mit ihm auch meine Salzburg-Premiere während der Festspiele 2016 habe. 12. septeMber, Philharmonie Essen 30. august 2016, Salzburger Festspiele verÖffentlichung Ebenfalls in diesem Monat erscheint meine neue CD mit dem Kammerorchester Basel. Konzertsaal Philharmonie Essen, © Frank Vinken

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oktober/noveMber 2015 tourneestart mit dem Orchestre de Paris und Paavo Järvi in der grandiosen neuen Philharmonie de Paris von Jean Nouvel. Danach gehen wir auf Europatournee: 29. oktober, Philharmonie Paris 6. noveMber, Budapest 7. noveMber, Wiener Konzerthaus 10. noveMber, Philharmonie Berlin 11. noveMber, Philharmonie am Gasteig München 13. noveMber, Alte Oper Frankfurt 14. noveMber, Palais des Beaux Arts Brüssel

Philharmonie de Paris © Beaucardet John Storgards, © Marco Borggreve and Heikki Tuuli

australien ab DeM 20. noveMber bin ich mit dem Kammerorchester Basel in Australien; wir spielen in Melbourne, Brisbane und Sydney – ein Debüt, auf das ich mich sehr freue.

februar 2016 usa Das Jahr beginnt mit einer Reise in die USA, die ich von Mal zu Mal mehr schätze. Mit dem Houston Symphony Orchestra und seinem Dirigenten John Storgards trete ich am 12., 13. unD 14. februar auf. Storgards ist auch ein Geiger höchster Klasse, wir haben schon Kammermusik zusammen gespielt – auf das Wiedersehen freue ich mich sehr.

Die Auferstehungskirche, Sankt Petersburg, © Shutterstock

März 2016 sankt petersburg Sankt Petersburg ist eine meiner Lieblingsstädte; umso mehr genieße ich es, dort in der Philharmonie mit dem Orchester unter Nikolai Alexeev aufzutreten. 17. März, St. Petersburger Philharmonie

Mai 2016 Debüt Mein Debüt mit The Los Angeles Philharmonic, dem philharmonischen Orchester Los Angeles unter Leonard Slatkin. Diese Einladung ist mir sehr wichtig, das Orchester ist grandios und ich liebe die Westküste. 15. Mai

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panoraMa

Martin Schoeller ist einer der bedeutendsten Porträtfotografen seiner Zeit und bekannt für seine schonungslos ehrlichen Bilder. Im Interview spricht er über seinen Werdegang zum Starfotografen, die Wahrheit hinter so manchem Promi-Lächeln und seine Begeisterung für die Fotografie.

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Panorama

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Innehalten: Martin Schoeller mit seinen Fotos in der Galerie Camera Work in Berlin-Mitte. Seine Werke wurden in viel beachteten Ausstellungen in New York, Paris und Berlin gezeigt.

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Close-up: So nahe, zuweilen nur wenige Zentimeter, kommt Martin Schoeller in seinem mobilen Studio Weltstars, Wirtschaftsmagnaten und Politikern.

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Herzlich lächelnd und Schulter klopfend begrüßt der Starfotograf mit blonden Rastalocken den Besucher. Obwohl er schon lange New Yorker ist und nur noch selten Deutsch spricht, möchte er das Gespräch auf jeden Fall in seiner Muttersprache führen, sagt er. Dann setzt er sich wieder vor den Computerbildschirm in seinem Büro in der Hudson Street in Manhattans Szenebezirk Tribeca. Hier, zwischen Broadway und Hudson River, lebt und arbeitet der deutsche Fotokünstler Martin Schoeller (47) in einem ehemaligen Speicherhaus.

Im dritten Stock befindet sich sein Studio, das 250 Quadratmeter große Loft, das er mit Sohn und Ehefrau bewohnt, ein Stockwerk darunter. Auf dem Schreibtisch liegen neben Notizzetteln, Restaurantquittungen und Taxibelegen ein paar Abzüge vom letzten Shooting mit Sängerinund Schauspielerin Taylor Swift. „Zum Glück sind sie gut geworden, denn auch ich bin immer nur so gut wie meine letzten Arbeiten“, sagt Schoeller. An den Wänden hängen Prints von George Clooney, Clint Eastwood und Obdachlosen in Los Angeles. Büromanagerin Lisa serviert dem Besucher Cappuccino und frisches Obst, Schoeller stellt Handy und Computer aus, nimmt seinen Gegenüber neugierig ins Visier, und das Gespräch beginnt. Herr Schoeller, als Sie 1993 mit Mitte 20 nach New York kamen, konnten Sie sich vorstellen, einmal so vielen Wichtigen so nahe zu kommen? Ich hatte nicht mal davon geträumt. Nach meiner Fotografenausbildung beim Berliner Lette-Verein kam ich mit 7.000 Dollar Stipendium und schlechtem Schulenglisch nach New York. Ich wollte einfach von den Besten der Branche lernen. Warum wollten Sie überhaupt Fotograf werden? Ging es um die Menschen oder um die Ästhetik? Was wollten Sie zeigen? Eigentlich wurde ich nur durch Zufall Fotograf. Ein Freund bewarb sich für den Studiengang, ich tat es ihm einfach nach. Und fand dann aber schnell Gefallen dran. Im Grunde ist mein oberstes Ansinnen als Fotograf, die Menschen ehrlich darzustellen. Wen sprachen Sie in New York zuerst an? Zuerst Irving Penn. Ich bekam ihn auch ans Telefon. Doch er machte es kurz: kein Job, kein Interesse. Bei Annie Leibovitz hatte ich nach vielen frustrierenden Versuchen mehr Glück. Hätte es bei

Annie nicht mit der Stelle des dritten Assistenten geklappt, wäre ich wohl zurück nach Frankfurt gegangen und hätte mir einen Job in der Behindertenhilfe gesucht. Da hatte ich schon als Schüler gearbeitet. Das war gut und sinnvoll. Vielleicht hätte ich aber auch versucht, mich als klassischer Fotoreporter durchzuschlagen. Oder als Werbefotograf. Der Typ, der schnell aufgibt, bin ich nicht. Wie erlebten Sie die Promi-Welt bei der gut vernetzten Leibovitz? Welche Spielregeln lernten Sie? Ich suchte die Locations, beschäftigte mich mit organisatorischen Dingen und hatte mit all den berühmten Menschen, die Annie fotografierte, eigentlich wenig zu tun. Teilweise kannte ich sie auch gar nicht, weil mich das Show-business nur wenig interessierte. Wie gestaltete sich dann Ihr Start in die selbstständige Fotografenkarriere? Ich hatte während meiner gut drei Jahre bei Annie 15.000 Dollar gespart und dachte, ich wäre reich. Doch die Jobs blieben aus, das Geld zerrann. Ich kam bei einer Freundin unter, lebte in ihrer feuchten Wohnung vor allem von Fertigpizza und Dosenbier. Ich war ein erfolgloser Fotograf in New York und lief bei Agenten und Magazinen gegen Wände. Kam der Gedanke auf, nach Deutschland zurückzugehen? Nein, ich war gewillt zu kämpfen, arbeitete 14 bis 16 Stunden, sieben Tage die Woche. Weil ich damals nur eine Kamera besaß und keine Lichtanlage, jedoch an meiner Mappe arbeiten musste, baute ich mir eine eigene Fotobox. Das Close-up-Studio, das ich überall aufstellen konnte. Damit zog ich durch New York, machte Porträts von Junkies, Obdachlosen, Freunden. Und ich begleitete über Wochen die Nachtschicht eines Polizeireviers in New Jersey.

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Maskenmann: Weil George Clooney das Posen nicht lassen mochte, hatte der Fotograf ihn einfach maskiert.

© Portraits by Martin Schoeller, published by TeNeues, www.teneues.com. Photos © 2014 Martin Schoeller. All rights reserved. (ISBN 978-3-8327-9729-4)

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Kreativ: Comedian Steve Carell fand Martin Schoellers Idee mit dem Klebeband zwar gewagt – aber gut.

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Panorama Vaterfreuden: Der Fotograf geht gerne mit seinem Sohn einkaufen. Felix liebt es, sich zu verkleiden.

1999 dann plötzlich die Wende ... Richtig! Das Magazin „Time Out“ beauftragte mich, Schauspielerin Vanessa Redgrave zu fotografieren. Damals waren distanzierte Schüsse bei perfektem Licht in Mode. Ich machte bei Vanessa Redgrave genau das Gegenteil, das supernahe Porträt. Gerade als Fotograf ist es wichtig, sich von der Masse abzuheben. Das Foto erschien – und plötzlich war ich der Shootingstar. Mir standen alle Türen offen. Sogar beim elitären „The New Yorker“ ... Das Magazin schickte mich zu Skateboard-Weltmeister Tony Hawk. Ich ließ ihn vor den Augen seiner verdutzten Familie über das heimische Küchenbüffet brettern. Diesem Foto habe ich meinen Exklusivvertrag beim New Yorker, der bis 2012 lief, zu verdanken. Mann, ich trat in die Fußstapfen von Richard Avedon. Was für eine Ehre! Was für eine verantwortungsvolle Aufgabe! Heute kennen Sie sich mit der Welt der Reichen und Mächtigen aus. Welchen Blick haben Sie darauf? Ich fotografiere zwar oft Reiche und Mächtige, kenne mich aber deshalb in deren Welt noch lange nicht aus. Man trifft sich am Set, macht seinen Job und geht dann wieder auseinander. Für mich ist es wichtig, meinen Protagonisten immer gleich gegenüberzutreten. Respektvoll, freundlich und professionell. Egal ob er Jugendidol oder Junkie ist. Was ist Ihnen bei den Close-ups wichtig? Ich bin immer auf der Suche nach der ehrlichen Sekunde. Nach dem echten Gesicht. Es ist nicht mein Hauptanliegen, die Leute gut aussehen zu lassen. Ich möchte möglichst objektive Bilder machen, zumindest welche, die weniger lügen als andere. Dafür arbeite ich genau auf den Moment hin, in dem die Leute hellwach sind, etwas Offenes, Intimes von sich preisgeben. Wie heißt es noch? Die Wahrheit steht den Leuten ins Gesicht geschrieben. Und was ist die Wahrheit? Was kommt da für Sie zum Vorschein? Ein Bild, das sich für den Betrachter ungestellt anfühlt. Wenn man einen solchen Moment festhält, der den Protagonisten stolz, selbstbewusst, schüchtern, ängstlich oder zerbrechlich wirken lässt, werden wir uns alle ähnlich. Es ist einfach der Blick hinter die Maske, der mich reizt. Jedoch die Seele eines Menschen einzufangen, das ist meiner Meinung nach durch ein Foto nicht möglich. Haben Sie eine Strategie, wie Sie das typische HollywoodStrahlegrinsen und politische Steifheit umschiffen? Ich studiere meine Protagonisten und weiß, welche Musik sie hören, welche Fragen ihnen am Herzen liegen, was sie aktuell bewegt. Und

natürlich läuft ihre Musik während des Shoots, bei dem ich immer sehr viel spreche. So versuche ich, eine gewisse Energie aufzubauen. Alles muss bis ins kleinste Detail stimmen. Das macht geschmeidiger. Wenn sie dann für einen Moment vergessen, dass sie vor der Kamera sitzen, mache ich einen guten Job. Und es entsteht ein Foto, das sie zeigt, wie sie wirklich sind, das in Erinnerung bleibt. Wie viele von diesen Bildern gelingen Ihnen im Jahr? Wenn es zehn sind – bei durchschnittlich 60 bis 80 Aufträgen im Jahr – bin ich zufrieden. Dann war es ein gutes Jahr. Wer hat es Ihnen besonders schwer gemacht? George Clooney ist zwar einer meiner Lieblingsprotagonisten, er macht alles mit, aber albert leider auch immer herum. Der echte Clooney ist schwer zu erwischen. Uma Thurman hatte viel zu viel Make-up drauf, fast wie eine Maske. Und Catherine Zeta-Jones war einfach ein bisschen langweilig. Bei Schauspielern ist es generell schwer, einen ungestellten Moment einzufangen. Der Grund dafür? Die meisten sind eitel, möchten toll aussehen. Sie wollen sich immer von ihrer besten Seite zeigen. Wackeln Ihnen bei Begegnungen mit Megastars manchmal die Knie? Nein, nie! Jedenfalls nicht vor Ehrfurcht. Ich bin kein Fan von Schauspielern, Sportlern oder Showmastern. Ich habe keine Helden, schaue kein TV und gehe auch nicht so oft ins Kino. Ich bin immer nur daran interessiert, eine angenehme, lockere Atmosphäre zu schaffen, ich selbst zu sein und ein Bild zu schaffen, das etwas von Wahrheit hat. Egal ob ich einen Politiker, Schauspieler, Obdachlosen oder Stammesmitglied eines Urvolks im Amazonas-Dschungel vor der Kamera habe.

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Skaterlegende: Durch dieses Foto von Tony Hawk aus dem Jahr 1999 wurde Martin Schoeller Vertragsfotograf beim legendären Magazin „The New Yorker“. Fortan standen ihm bei den Stars Türen und Tore offen.

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Vor wichtigen Fototerminen bin ich allerdings sehr nervös und schlafe schlecht. Denn auch ich bin immer nur so gut wie mein letztes Bild. Und ein gutes Foto ist von so vielen Faktoren abhängig, die man nicht kontrollieren kann.

Gab es deshalb mal Probleme? Tom Cruise und Mariah Carey wollten mich als Fotografen nicht. Kommt vor. Ich glaube, manchem Promi gefallen meine Close-ups einfach nicht.

Wollen Sie genau das Bild, das Sie vom Star im Kopf haben, machen? Ja, bei meinen konzeptionellen Bildern versuche ich das. Sprint-Weltrekordler Usain Bolt nimmt nach seinen Siegen immer diese skulptureske Bogenschützen-Stellung ein. Also habe ich ihn im Metropolitan Museum zwischen riesige Skulpturen gestellt. Oder Rapper Sean Combs, früher Pi Diddy. Der ist ziemlich selbstverliebt. Den habe ich mit Champagnerglas in der Hand zwischen zwei nackten Schönheiten vor einem Selbstbildnis in Öl platziert. Ich bin sicher – das ist der echte Sean Combs, den ich da abgelichtet habe.

Neben den Close-ups sind Sie auch für Ihre fantasievoll inszenierten Fotos berühmt. Sie ließen Bill Clinton im Weißen Haus Golf spielen, steckten Quentin Tarantino in eine Zwangsjacke und verklebten Komiker Steve Carells Gesicht mit Tesafilm. Warum? Tarantino hat ja schon den einen oder anderen verrückten und vor allem brutalen Film gemacht. Von daher ist er in Verbindung mit Zwangsjacke und flatternden Friedenstauben doch ein gutes, treffendes Bild. Bei Clinton, der damals nur noch drei Monate als US-Präsident im Amt war, habe ich den Golfschläger in der Stativtasche ins Weiße Haus geschmuggelt. Er ist leidenschaftlicher Golfer und machte den Spaß trotz Bedenken seines Pressemanns mit.

Haben die Stars bei den Motiven ein Mitspracherecht? Nur insofern, als dass sie sagen können, da und da mache ich nicht mit. Kommt öfter vor, oder? Vor allem den PR-Leuten sind meine Ideen manchmal zu gewagt. Die Prominenten selbst sind oft viel lockerer. Deshalb mag ich Leute wie Schauspieler Christian Bale. Er hat gar keinen Pressemenschen. Als ich ihn fotografierte, kam er lässig mit Motorrad zum Set. Ich habe echt gute Erinnerungen an dieses Shooting. Und das Ergebnis? Der da auf dem Foto ist Christian Bale, wie er leibt und lebt. Ergibt sich auch mal so etwas wie Freundschaft zwischen Fotograf und Fotografiertem? Ist bis jetzt noch nicht vorgekommen. Und ich leide nicht darunter. Viele von denen, die ich vor der Linse habe, sind Weltstars und führen ein ziemlich abgehobenes Leben. Ich lege Wert darauf, bodenständig zu bleiben. Meine Bilder sind zwar dem einen oder anderen bekannt, aber ich bin kein Star. Mein Sohn Felix besucht eine ganz normale Schule, und ich bringe ihn, so oft ich kann, morgens mit dem Roller hin. Mein Auto ist ein 15 Jahre alter VW-Bus. Ich laufe gern in Jeans und T-Shirt herum, unsere Einkäufe und den Haushalt erledigen wir selbst. In Sachen Bildbearbeitung sind Sie zurückhaltend. Was ist der Grund? Weil ich am Set um ehrliche Bilder kämpfe und sie dann nicht im Nachhinein verfälschen möchte. Klar, viele wollen zehn Jahre jünger und 15 Kilo leichter aussehen. Doch ich bin kein Schönheitschirurg.

Verraten Sie den Protagonisten vorher, was Sie vorhaben? Natürlich nicht. Meistens habe ich zehn Ideen im Kopf und fange mit der harmlosesten an. Die Ideen haben immer etwas mit der Person zu tun und müssen ihrem Charakter entsprechen. Ich versuche am Set eine Vertrauensbasis zu schaffen, taste mich vor, und je länger ein Shooting dauert, desto mutiger werde ich. Welches ist Ihr meist gedrucktes Bild? Angelina Jolie mit Blut im Mundwinkel. Eigentlich wollte ich ihr das Blut aus der Nase sickern lassen. Aber sie hatte Bedenken. Die Leute könnten denken, dass sie Kokain konsumiert, meinte sie. Den Gedankengang konnte ich gut nachvollziehen. Wen hätten Sie gerne noch vor der Kamera? Fidel Castro, Wladimir Putin, den Papst. Ein paar habe ich verpasst, weil sie verstorben sind: Nelson Mandela, Gabriel García Márquez, Günter Grass. Ich hab’s auf mehreren Wegen versucht, aber kam einfach nicht an sie heran. Ganz ehrlich, das frustriert mich. Sind Sie auf einer Mission? Ich möchte Chronist sein, Fotodokumente für die Nachwelt schaffen. Deshalb fotografiere ich die Close-ups nicht digital, sondern auf Film. Niemand weiß, wie digitale Fotos in 100 Jahren aussehen. Filme hingegen sind so gut wie unverwüstlich. Wenn das Kind des Kindes meines Sohnes irgendwann mal wissen will, wie Jack Nicholson, Mark Zuckerberg, Barack Obama oder Angela Merkel aussahen, meine Close-ups werden es ihm zeigen.

Text: Jörg Heuer

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August 2015

Zelluloid: Die Liste der Porträtierten ist lang und exklusiv. Seine Close-ups fotografiert Schoeller bis heute auf Film.

Markenzeichen: nahaufnahMe Martin Schoeller wurde 1968 in München geboren. Er ist in Frankfurt aufgewachsen und 1993, also mit gerade einmal 24 Jahren, nach New York gezogen. Dort erkämpfte er sich eine Assistentenstelle bei Annie Leibovitz, der Großmeisterin der Glamourfotografie. 1999 wurde er Vertragsfotograf beim elitären Magazin „The New Yorker“. Anfang des neuen Jahrtausends startete die Weltkarriere des Fotografen, dessen besondere Markenzeichen Close-ups, extreme Nahaufnahmen, sind, die er stets im selbst entworfenen, transportablen Ministudio schießt: einfache Neonröhren, links und rechts schwarze Stoffbezüge, Hocker, hellgrauer Hintergrund. Und die Kamera stets nur eine gute Armlänge vom Gesicht seiner Protagonisten entfernt: von Clint Eastwood und George Clooney, Angelina Jolie und Jane Fonda, Quentin Tarantino und Martin Scorcese, Johnny Cash und Jay-Z, Mark Zuckerberg und Donald Trump – und auch von den Clintons, Barack Obama und Angela Merkel. „Die Bilder in Close Up – der dämonisch blickende Jack Nicholson, der jesusmäßige Prince, die ausdruckslose Britney Spears, der zerknitterte Brian Wilson – sind auf gespenstische Weise wahrhaftig, hyperreal“, schrieb David Remnick, Pulitzer-Preisträger und Chefredakteur des „New Yorker“ im Vorwort zu Schoellers 2005 bei teNeues erschienenem Buch „Close Up“. „Sie streifen alles ab, was zum Schutz der Berühmtheit geschaffen worden ist, was die Berühmtheit überhaupt erst erschaffen hat.“ Jeff Koons, der teuerste lebende Künstler der Welt, schwärmt im Vorwort von Martin Schoellers 2014 ebenfalls bei teNeues erschienenen Fotoband „Portraits“: „Martins Porträts erfassen den Charakter des Menschen und die Reinheit des Augenblicks.“

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Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anDerer zu sein. Simone de Beauvoir, 1908 – 1986, französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin

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